Sie sah ihn abwartend an, seine Reaktion genau abschätzend. Choi sagte für einen Moment gar nichts, dann nickte er.
»Das Gebäck ist gut«, murmelte er.
Da war wieder dieses mütterliche Lächeln, so falsch wie hier fast alles.
»Danke, ich habe es selbst gemacht. Ein altes Familienrezept.«
Und dann war es Zeit für den Rückweg.
Der Schwindel ließ nach und gab allen anderen schlechten Eindrücken Raum: Übelkeit, Gliederschmerzen, einem starken Druck auf dem Kopf, brennenden Augen. Es war keine Grippe, dessen war sich Köhler durchaus bewusst, aber es war durchgehend unangenehm, ein Gefühl von Erschöpfung und Schmerz, das jede Faser seines Körpers durchströmte und durch seine ungemütliche und absolut unentspannte Haltung auf dem Stuhl, festgeschnallt und in jeder Bewegung eingeschränkt, nur noch potenziert wurde.
Es war so unangenehm, es dauert tatsächlich einige Sekunden, bis ihm siedend heiß einfiel, dass er ja nicht alleine war.
»Terzia!« Es war ein Krächzen.
»Wach?« Ihre Stimme klang weitaus entspannter und weniger gestresst als die seine. Ein Gefühl der Erleichterung wusch für einen Moment den Kopfschmerz weg.
»Wie geht es dir?«
»Beschissen. Wir sind da.«
»Wo sind wir?«
Im Halbdunkel der Zeitkapsel war das Gesicht seiner Gefährtin nur undeutlich auszumachen, obgleich die Instrumentenbeleuchtung sowie ein rötliches Notlicht einen Schimmer in das Innere des Gefährts warfen. Die Metallkonstruktion knackte etwas, als müsse sich beanspruchtes Material entspannen.
»Die Frage ist doch eher, wann wir sind.«
Terzia hatte absolut recht. Sie waren dem Attentatsversuch mit Glück entkommen, dem Seliger III. zum Opfer gefallen sein musste, und hatten sich auf eine Jagd begeben, zu der zumindest Köhler eigentlich absolut nicht bereit gewesen war. Aber weder das Schicksal noch Terzia – zwischen beidem waren die Unterschiede sowieso eher vage – hatte sich um seine Einwände gekümmert. Die Kapsel war aktiviert worden, und wie Seliger es ihnen erklärt hatte, folgte sie dem Zeitsprung ihrer Nemesis, des Mannes, der für so viel Unheil verantwortlich war und dessen fortgesetzte Aktivitäten drohten die Struktur von Raum und Zeit dauerhaft in Mitleidenschaft zu ziehen.
Soweit Köhler diese höchst abenteuerliche Geschichte zu glauben bereit war.
Terzia schien diesen Erkenntnissen weitaus offener gegenüberzustehen. Er beneidete sie ein wenig um diese Haltung.
Verdammt, ihm war immer noch richtig schlecht! Er legte eine Hand auf seinen Magen, ritt den aufwallenden Krampf ab und stöhnte kurz, obgleich er es gar nicht wollte. Er spürte Terzias Hand auf seiner Schulter, gleichermaßen Trost wie Aufforderung.
»Wir müssen die Luke öffnen!«, sagte die Frau mit Nachdruck.
»Aber wir wissen nicht, was uns da draußen erwartet!«
»Deswegen müssen wir sie ja öffnen.«
Köhler kam gegen diese entwaffnende Logik nur schwer an, war jedoch darauf bedacht, in der Enge ihres Gefährts keinen Streit zu beginnen. Die Luke hatte ein Fenster, mehr ein glorifiziertes Guckloch, das von innen verschlossen wurde. Er schob die Abdeckung langsam beiseite und versuchte, etwas zu erkennen.
»Es ist dunkel!«, stellte er fest.
»Vielleicht ist Nacht.«
»Vielleicht sind wir mitten in einem Berg gelandet.«
Terzia schüttelte den Kopf und hob das Handbuch in der metallenen Kladde, das sich an Bord befand und in dem, so Seliger, allerlei interessante Informationen zum Betrieb dieser Kapsel niedergelegt waren. Dass Terzia als Wissenschaftlerin in einem ersten Reflex zur Literatur gegriffen hatte, um ihre Fragen zu beantworten, war nicht überraschend. Sie hatte wahrscheinlich auch deutlich weniger Kopfschmerzen.
»Das hier sagt, so etwas gäbe es nicht.«
»Dann unter Wasser.«
»Die Kapsel ist nur kurze Zeit wasserdicht. Es gibt über der Luke ein Außenlicht. Da, das ist der Schalter.«
»Moment. Dieses Ding sagt uns doch die Jahreszahl an, oder?«
Köhler zeigte auf eine Anzeige. Terzia nickte. Sie lasen beide: 1920.
Das war ein wenig wie ein Schlag mit einem nassen Lappen mitten ins Gesicht. Es vertrieb den Schmerz und Köhler starrte auf die Zahlen. So richtig glauben konnte er es nicht.
»Verdammt!«, murmelte Köhler. »Das ist … sehr, sehr weit in der Zukunft.«
»Es ist, kurze Zeit nachdem die Kaiserkrieger in die Vergangenheit gereist sind«, versuchte Terzia etwas umständlich die richtige Aussage zu treffen. Köhler verstand sie natürlich sofort.
Er zögerte nicht länger und legte den Schalter um. Durch das Guckloch war der Lichtschimmer gut erkennbar und der Mann lugte wieder hindurch.
»Nein, kein Wasser. Es ist Nacht. Wir stehen im Freien, ich sehe Erdboden, einige Pflanzen, aber keine Bewegung, niemanden, auch keine Gebäude. Wir werden gewiss keine unmittelbare Aufmerksamkeit errungen haben.«
»An welchem Ort sind wir herausgekommen?«, fragte Terzia sich sinnierend. »Wird man uns hier verstehen? Und ist unser Gegner bereits hier angekommen und hat irgendwelche üblen Machenschaften begonnen?«
»Angekommen gewiss, wenn unsere Kapsel seiner Spur gefolgt ist.«
»Falls dem so ist.«
Köhler seufzte. »Es passt mir nicht, aber wir sollten die Luke tatsächlich öffnen. Ich brauche etwas frische Luft.«
Sie traten ins Freie. Die Luft war frisch und bemerkenswert kühl. War hier vielleicht Winter? Terzia atmete geräuschvoll ein.
»Sumpf. Es gibt Sumpf in der Nähe, wenn du mich fragst. Oder zumindest ein flaches, stehendes Gewässer mit viel feuchter Erde drumherum.«
Köhler nickte, streckte seine Beine. Es war zu dunkel, um viel zu erkennen, und er wollte sich nicht weit von der Kapsel fortbewegen. Er lauschte, doch außer ein paar fernen Tiergeräuschen war nur das Rauschen eines sehr sanften Windes zu vernehmen, das Geraschel von Blättern oder Gräsern. Über allem lag eine Atmosphäre des Friedens, doch davon ließ er sich nicht täuschen. Das war eine Wahrnehmung, die viel mehr seinem Bedürfnis als den Tatsachen entsprach, vor allem, da in der Dunkelheit Letztere vor ihm verborgen blieben. Er gemahnte sich zur Vorsicht. Doch so angespannt und aufmerksam er seine Umgebung auch beobachtete, keine plötzliche Gefahr machte sich bemerkbar.
Sein Magen grummelte. Das war keine plötzliche Gefahr. Hunger. Aber es konnte ein Problem werden.
»Wir müssen zurückkehren«, sagte er. »Egal, wo wir hier sind, wir müssen in unsere Zeit.«
»Nein.«
Die klare, ablehnende Haltung Terzias kam nicht überraschend. Bereits als Seliger mit seinen Schilderungen begonnen hatte, war Köhler keinesfalls entgangen, wie fasziniert die Wissenschaftlerin darauf reagiert hatte. Ihre Augen hatten einen ganz eigentümlichen Glanz eingenommen, und als Seliger seine Absicht ausgesprochen hatte, Köhler auf diese Reise zu schicken, als Jäger durch die Zeiten, war seine unmittelbare und spontane Abneigung von ihr … nun, jedenfalls nicht halb so energisch unterstützt worden, wie er sich das wünschte.
»Terzia, das ist unvernünftig.«
»Wenn stimmt, was der alte Mann uns gesagt hat, ist es das Gegenteil.«
»Du glaubst das im Ernst?« Köhler schüttelte den Kopf. »Was ist das überhaupt für eine Geschichte? Ein verrückter Zeitreisender bringt das Gefüge von Raum und Zeit in Erschütterung und droht die ganze Welt zu vernichten? Wer denkt sich so was aus? Wer glaubt so was? Wer will so was ernsthaft hören?«
»Die Fakten passen zu der Geschichte. Dein Vater wäre sonst nicht in unsere Zeit gereist und du würdest gar nicht existieren.«
»Das behauptet Seliger.«
Terzia zeigte auf die sanft im Sternenlicht schimmernde Kapsel.
»Er hat da etwas, mit dem er seine Theorie untermauern kann, und das ist mehr, als jede andere Theorie bisher aufzubieten hatte. Und die Tatsache allein, dass wir Zeuge des Angriffes dieses Irren wurden, der ganz offensichtlich versucht hat – zum exakt richtigen Zeitpunkt! –, uns alle drei auszuschalten – das ist ebenfalls ein starkes Argument dafür, dass Seliger recht hatte. Und dass es jetzt an uns ist, Schlimmeres zu verhindern.«
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