»Das war also Absicht.«
»Natürlich war das Absicht. Aber ich konnte nicht anders. Ich war dabei, von euren Erwartungen und euren Forderungen nach Verantwortung und der Familie hier und der Familie da erstickt zu werden. Zum Schluss habe ich mich selbst nicht mehr gespürt.«
Kit lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie hörte die Worte, aber sie verstand sie nicht. »Geht es wirklich darum? Sich selbst zu spüren? Und ich habe geglaubt, es ginge um die Liebe zu den anderen und darum, das Seine im Leben zu tun.«
Karen-Lis lächelte schwach, »Vielleicht habe ich gehofft, beides kombinieren zu können. Aber offenbar hat das nicht funktioniert.«
»Egoismus. So nennt man das wohl.«
Karen-Lis schien zu überlegen, ob sie empört sein oder sich dafür entscheiden sollte, es humorvoll zu nehmen. Schließlich lächelte sie quer über den Tisch.
»Manchmal ist das der einzige Weg nach vorn.«
Ein Klirren ertönte, als einer Dame an einem anderen Tisch die Gabel auf den Boden fiel. Das Geräusch schien sie aufzurütteln. Kit dachte an ihren Vater und an die rote Karte. Die Worte kamen, ohne dass sie es eigentlich wollte.
»Ich glaube, dass es jemand auf Vater abgesehen hat. Jemand, der ihm Böses will. Ich versuche herauszufinden, was vor sich geht.«
Einen Moment saß Karen-Lis ganz still da. Das Lächeln war verschwunden, abgelöst von Sorge. Sie beugte sich wieder vor und begegnete Kits Blick. Plötzlich begriff Kit, dass die Sorge ihr galt.
»Lass das, Schwester«, sagte Karen-Lis langsam, und Kit hatte das Gefühl, plötzlich wieder sechs Jahre alt zu sein und nach einem weiteren bösen Traum von dem mit Spiegeln verkleideten Pavillon Trost bei ihrer Schwester zu suchen.
»Lass es sein. Du machst dich nur unglücklich.«
Sie dachte an die letzten Worte ihrer Schwester, als sie auf der Autobahn zurück nach Nyborg und zu ihrer Verabredung fuhr. Fragte sich, was Karen-Lis gemeint hatte, tat es dann jedoch als unwichtig ab. Das war typisch Karen-Lis, plötzlich hereingeschneit zu kommen und alles bestimmen zu wollen, obwohl sie kein Teil der Familie mehr war. Denn das war sie nicht. Nicht richtig. Sie hatte kein Gespür für das, was vor sich ging, wusste nicht mehr, wie sie dachten. Konnte sich nicht in ihrer Welt und ihren Alltag versetzen. Sie war zu Besuch, nichts anderes. Es nützte nichts, sich zu öffnen und die alte Vertrautheit zuzulassen. Sie würde schwuppdiwupp wieder aus ihrem Leben verschwunden sein, und man selbst blieb mit abgeschnittenen Nerven und Gefühlen, die in ihrer Nacktheit herumbaumelten, zurück.
Ein kräftiger Windstoß rüttelte an der Karosserie. Kit hielt das Lenkrad von Großmutters altem Volkswagen fest, als sie Richtung Innenstadt abbog. Es war noch immer mit ihrem Lammfell bezogen, das da, wo die Hände zugepackt hatten, bis auf die Haut hinunter abgenutzt war. Sie vermisste diese Hände. Erinnerte sich an jeden einzelnen gebogenen Finger und an den Saphirring, der an der rechten Hand glitzerte. Sie musste daran denken, das Fell einmal umzudrehen, damit man wieder weiche Wolle anfasste.
Es schneite jetzt stark. Millionen von Flocken schienen beschlossen zu haben, zum Angriff auf sie überzugehen, und sie überlebte nur durch den Panzer der Frontscheibe. Sie parkte auf dem Markt in der Mitte der Stadt, hängte sich die Tasche über die Schulter und ging schaudernd durch den Schnee, der auf dem Asphalt zu Pfützen schmolz oder auf Treppen und Hausvorsprünge geweht wurde.
Sie zog sich den Hut extra tief über die Ohren und hielt ihn fest. Vielleicht war es doch gut, dass Karen-Lis sie gewarnt hatte. Sonst hätte sie vielleicht weitergemacht. Hätte vielleicht die Karte mit den chinesischen Schriftzeichen aus der Tasche gezogen und sie eingeweiht. Und sie hatte das Gefühl, dass es zu früh war. Karen-Lis verdiente die Vertrautheit nicht. Sie hatte sich selbst ins Abseits manövriert.
Die Frau in dem chinesischen Restaurant hatte am Telefon zuerst ein wenig misstrauisch geklungen. Als glaubte sie, zum Narren gehalten zu werden. Aber es passierte natürlich auch nicht jeden Tag, dass jemand sie bat, einen chinesischen Text zu übersetzen, sodass Kit schließlich einen Tisch reserviert hatte. Sie hatte Henrik gefragt, ob er mitkommen wolle, aber er hatte ihr mitgeteilt, er sei heute beschäftigt.
Kurz wie ein Windstoß durchfuhr sie Panik. Vielleicht zog er sich bereits wieder zurück. Vielleicht hatte er das Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, jetzt, wo ihr Vater stabil und Karen-Lis nach Hause gekommen war. Vielleicht hätte sie ihn nicht drängen sollen. Hätte den Bruch nicht wieder erwähnen sollen.
Während sie ging, drückte sie die Tasche an sich. Das Recht war auf seiner Seite. Er hatte sein eigenes Leben, wie er selbst gesagt hatte. Warum ihn in etwas hineinziehen, worin er lieber nicht hineingezogen werden wollte? Sie fischte ein Taschentuch aus der Tiefe ihrer Manteltasche hervor. Musste stehen bleiben, während sie nieste. Verdamm, warum war sie so sensibel. Zum Teufel mit der Abhängigkeit. Wenn sie sich doch befreien könnte wie Karen-Lis. Wenn sie sich doch damit begnügen könnte, ihr eigenes Leben zu leben und nicht das der anderen, dann würde sie vielleicht auch nicht so abschreckend wirken. Denn aus diesem Grund hatte sie ihn doch verloren. Das wusste sie genau. Weil sie die Tochter ihres Vaters war. Weil die Familie sie mehr brauchte als Henrik. Weil sie auf den Pausenknopf drücken konnte, wenn es um ihn ging. Aber nicht, wenn es um die Familie ging.
Das chinesische Restaurant war wie so viele seiner Art. Rote Lampen aus Reispapier mit ebenso roten Seidenfransen hingen von der Decke herunter; die Wände schmückten Paneele mit Feuer spuckenden Drachen und angreifenden Löwen, und auf den schwarzen Lacktischen lagen rote Tischdecken mit ähnlichen Motiven. Das Tagesgericht war ein Mittagsbüfett für 69 Kronen.
Sie bestellte scharfsaure Suppe und Schweinefilet in schwarzer Bohnensauce aus der Menükarte. Als die Bedienung mit der Suppe kam, fragte sie nach der Besitzerin, die kurz darauf aus dem hinteren Teil des Restaurants auftauchte.
Die Frau war in den mittleren Jahren, hatte aber die Figur eines Kindes. Vorsichtig näherte sie sich Kits Tisch. »Sie haben angerufen?«
Kit lächelte. Stand auf und gab ihr die Hand. »Kit Bennett.«
Sie zeigte auf die dampfende Schale auf dem Tisch. »Leckere Suppe.«
Die Frau lächelte zurück. Feine Runzeln überzogen ihr Gesicht. »Die meisten nehmen das Büfett.«
Kit zog ihr einen Stuhl vor und nahm selbst wieder Platz. Sie griff nach der Tasche und holte die Karte heraus. Öffnete sie und reichte sie der chinesischen Frau, die zuerst verwirrt auf die Zeichen guckte. Dann schien ihr Gesicht plötzlich aufzuleuchten.
»Goldener Drache«, sagte sie entzückt. »Wie mein Onkel.«
»Ihr Onkel? Ich verstehe nicht.«
Die Chinesin schwenkte die Karte in der Luft. »Mein Onkel ist ein Goldener Drache«, sagte sie und wiederholte die Worte auf Chinesisch.
»Ein Goldener Drache«, sagte Kit. »Ist das auf Kantonesisch oder Mandarin-Chinesisch geschrieben?
Wieder schien die Frau sie nicht zu verstehen. Sie schüttelte den Kopf. »Alles Chinesisch ist quasi gleich. Wenn man es schreibt.«
Ihr Vater hätte das natürlich gewusst. Sie selbst hatte alles über chinesische Schrift vergessen. Einmal hatte sie die Sprache gesprochen; jedenfalls so, dass sie mit den anderen Kindern spielen konnte. Sie wusste, dass die meisten Hongkong-Chinesen Kantonesisch sprachen.
Kit lächelte. »Was bedeutet das? Goldener Drache ... Wie Ihr Onkel, sagen Sie?«
»Der Drache ist ein sehr glückliches Zeichen. Das glücklichste Zeichen ist der Goldene Drache. Es gibt fünf verschiedene Drachen und zwölf Monate im Jahr. Fünf mal zwölf sind sechzig. Immer wenn sechzig Jahre vergangen sind, wird ein Goldener Drache geboren. Dieses Jahr ist so ein Jahr.«
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