1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Sie konnte nichts dafür. Und es lag nicht an ihm. Es war nicht persönlich gegen ihn gerichtet. Nur die Angst, anders und mehr sein zu müssen als sie selbst, Kit. Nicht Ehefrau. Nicht Mutter. Der Gedanke hätte sie beinahe erstickt; der Gedanke, die Angst und den Traum möglicherweise mit in eine Ehe zu zerren. Es gab ja genug in ihrem Leben. Henrik, ihren Vater und ihre Mutter und Karen-Lis. Genug Menschen und genug, warum man sich kümmern musste.
»Du hattest gerade deinen Job gekündigt. Der Zeitpunkt war, gelinde gesagt, schlecht. Außerdem heiraten nicht alle.«
Jetzt sah er kampfbereit aus. »Wenn unsere Beziehung darauf basieren sollte, ob ich für deinen Vater arbeite oder nicht, dann war es bestimmt gut so.«
»Du verdrehst die Tatsachen«, sagte sie.
»Tue ich das?«
Sie spielte mit ihrer Gabel. Kratzte Muster in die Wachstischdecke. Versuchte sich zu erinnern, konnte aber nicht sehen, ab wann es schief gelaufen war. Ab wann die Beschuldigungen und das Misstrauen und die Zerrüttung in ihr Leben gekommen waren. Aber eines Tages hatte er plötzlich seine Stelle bei Kaliki gekündigt und ihr ein Ultimatum gestellt. Ehe und Kinder oder nichts. Alles oder nichts.
»Es kann gut sein, dass es dich irritiert, das zu hören, Kit. Es kann auch gut sein, dass du zu den Leuten gehörst, denen es gelingt, durch das Leben zu gehen, ohne sich von der Familie und dem eigenen Vater lösen zu müssen«, sagte er mit seiner stillen, kontrollierten Stimme. »Aber ich gehöre nicht dazu.«
Sie kratzte weiter Muster in die Tischdecke. Die Muster glichen Wellen, die höher und höher wurden, wilder und wilder. Verdammt. Jetzt hatte er sie wieder gegen die Wand gedrückt.
»Ich hatte geglaubt, du liebst mich«, murmelte sie kleinlaut, wagte jedoch nicht, ihn anzusehen. »Ich hatte auch geglaubt, dir gefiele deine Arbeit bei Vater.«
Er streckte die Hand nach dem Bierglas aus. Aber er trank nicht. Saß nur da und drehte es auf der Stelle herum. »Das hatte ich auch geglaubt«, sagte er leise.
Sie saßen schweigend da. Er schien aufgegeben zu haben. Schien sich damit zu begnügen, dass sie nicht weiterkamen.
»Wart ihr seitdem da drinnen?« Henrik wechselte das Thema.
»Wo?«
»Im Büro? Da, wo es passiert ist.«
Es war ein klares Ablenkungsmanöver, aber sie sagte nichts, denn auch sie konnte nicht mehr. Konnte nicht weiter in der Schuld herumwühlen und sie zuordnen. Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben nicht die Zeit gehabt. Wir haben nur die Tür geschlossen.«
»Du hast nie nachgesehen, was in der Post war?«
Sie hatte es als unwichtig abgetan. Hatte ihre ganze Energie auf diesen einen Menschen im Krankenhaus konzentrieren müssen. Den einzigen Menschen auf der ganzen Welt, der sie nur durch das Öffnen der Augen und das Sagen ihres Namens glücklich machen konnte. Das hatte sie geträumt, während sie auf einem Stuhl im Wohnzimmer gedöst hatte. Dass er die Augen aufgeschlagen hatte. »Kit«, hatte er mit seiner alten, gut gelaunten Stimme gesagt. »Kit, mein Schatz. Sollen wir den Baum jetzt fällen?«
»Wir können jetzt nachsehen«, sagte sie und spürte ihre Unsicherheit. Denn sie hatte auch Angst gehabt und wie üblich dichtgemacht. Sich eingebildet, dass vielleicht die eine oder andere gute Fee kommen und sich um alles kümmern würde. Aufräumen und dafür sorgen, dass da, wo er gefallen war und das Regal mitgerissen hatte, nichts zu sehen war.
Henrik stand auf. »Komm.«
Es sah noch genauso aus wie an dem Morgen, als die Sanitäter die Bahre hereingetragen und ihn vorsichtig daraufgelegt und in Decken und Gurte eingepackt hatten. Nur das Bild von Karen-Lis hatten sie zurück auf den Tisch gestellt. Da saß sie und sah sie aus dem Rahmen heraus an. Das helle Haar zottelig kurz, das Gesicht schmal und fein auf dem langen Hals, den Blick auf ihren eigenen Namen auf der Titelseite der Zeitung gerichtet.
Henrik kniete sich hin und richtete vorsichtig das Regal auf.
»Es war schon immer wackelig«, sagte Kit. »Erst letzte Woche habe ich vorgeschlagen, ein neues zu bestellen. Es gibt so viele schöne. Aber natürlich keins, das Großmutter gehört hat ...«
Sie wusste, dass sie vor sich hinplapperte. Merkte, wie sich die Kehle zusammenschnürte und das Asthma sie keuchen ließ. Nie hatte ein Foto von ihr im Büro gestanden. Auch keins von ihrer Mutter.
»Ihr seid ja hier«, pflegte ihr Vater zu sagen. »Ihr seid ja direkt um die Ecke. Karen-Lis ist so weit weg.« Und das stimmte schließlich.
Sie sammelten alles auf. Bücher und Zeitschriften, die durcheinander lagen. Ordner, aus denen sich das meiste gelöst hatte und herausgefallen war, Jahrbücher aus Hongkong, die sorgfältig durch Jahre hindurch in schweren Bänden gesammelt worden waren. Kit setzte sich auf den Boden. Fand eine Weihnachtskarte und las sie. Sie war von einer Tante in Aarhus. Ein kleines Paket von DK-Textil stellte sich als Kunstkalender heraus, ein Weihnachtsgeschenk mehr von Geschäftsfreunden.
Sie sahen ihn beide gleichzeitig. Den kleinen roten Briefumschlag, der unter einem Buch darüber klemmte, was 1982 in Hongkong passiert war, und auf dessen Umschlag zwei chinesische Mädchen vor einem Hintergrund aus blühenden Frühlingsazaleen zu sehen waren. Kit streckte die Hand aus und zog das Kuvert hervor. Es war geöffnet, sah sie. Die Lasche war kaputt, als wäre sie aufgerissen worden. Sie nahm die Karte heraus. Es war eine neutrale weiße Karte. Keine Dekoration, kein Weihnachtsschmuck, keine Farben. Auf der rechten Seite standen nur drei mit sauberer Feder geschriebene chinesische Zeichen.
Henrik sah ihr über die Schulter. »Glaubst du, dass es das ist?«
Kit nickte. Spürte die Unruhe.
Henrik drehte den Umschlag um. Er war in Dänemark abgestempelt. »Kein Absender. Keine Unterschrift. Nur drei Zeichen.«
Sie nickte wieder. Drei Zeichen. Die ihr Vater deuten konnte, die für sie jedoch böhmische Dörfer waren. Trotzdem war sie sicher. »Das bedeutet etwas, ich weiß nicht was. Etwas, das ihn aufgeregt hat.«
»Vielleicht ist es nur eine Weihnachtskarte«, meinte Henrik.
»Dann stünde etwas in unseren Buchstaben darauf. Zumindest der Name meines Vaters und der des Absenders.«
Henrik nahm das letzte Jahrbuch und stellte es an seinen Platz. Dann begutachtete er das Regal, das noch immer unsicher stand. »Ich sollte wohl besser vorbeikommen und es reparieren«, murmelte er.
Als sie zwei Stunden später zurück ins Krankenhaus kamen, waren sie mit Kleidung und anderem, das mitzubringen ihre Mutter sie gebeten hatte, bepackt. In einem Anfall von Optimismus hatte sie auch nach den Kamelhaarpantoffeln ihres Vaters geschickt.
»Irgendeine Veränderung?«, fragte Kit ihre Mutter vorsichtig, die bleich und ausdruckslos am Bettrand Wache hielt.
»Der Arzt war hier. Aber er kann nichts sagen. Es kann plötzlich passieren. Aber es kann auch sein, dass es nicht passiert.«
»Dass er stirbt oder dass er aufwacht?«, wollte Kit fragen, aber sie brachte es nicht über sich. Deshalb setzte sie sich ihrer Mutter gegenüber und wunderte sich, dass sie das ganze Weiß sehen und den Krankenhausgeruch einatmen konnte, ohne zu erschaudern. Ihr Vater lag noch immer wie in tiefem Schlaf, mit Schläuchen in Nase und Armen und Instrumenten, die bewegliche Kurven auf grünen Schirmen zeigten und merkwürdige unpersönliche Laute von sich gaben.
Henrik blieb noch eine Weile. Zog sich einen Stuhl heran und setzte sich still hin. Sie konnte nicht auf seinem Gesicht lesen. Sie überlegte, wer die Karte mit den drei Zeichen deuten konnte. Sie könnte sie natürlich nach Hongkong faxen, wollte aber niemanden mit hineinziehen, der die Familie kannte.
Auf dem Gang hörten sie Schritte. Entschlossene Schritte, bei denen die Hacken fast auf den Boden knallten. Plötzlich verstummte das Geräusch, und die Tür ging auf.
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