Emilie stand auf.
„Wie lange bleibst du?“ fragte sie ihren Vater.
„Bis zum Abend.“
„Willst du denn nicht wenigstens bei uns übernachten?“ fragte Leopold.
„Danke schön, mein Junge! Aber du weisst, ich muss morgen früh um acht Uhr wieder hinterm Ladentisch stehen.“
„Es is auch besser, Papa hat seine Ordnung“, sagte Emilie und ging hinaus.
„Ich seh dich noch, bevor ich gehe“, rief ihr Cohn nach, dann zog er einen Stoss Papiere aus der Tasche, legte sie vor sich auf den Tisch und begann.
„Mir geht’s schlecht, mein Junge. Ich weiss nich, ob ich die Firma werde halten können, – denk’ dir, hundertzwanzig Jahre sind’s im August, dass mein seliger Urgrossvater sie gegründet hat.“
„Ein richtiger Segen hing nie daran“, erwiderte Leopold.
„Was heisst das?“ widersprach Cohn. „Hat das Geschäft uns nicht alle immer redlich ernährt? Haben wir je fremde Hilfe gebraucht?“
„Ihr habt eben alle keine Ansprüche ans Leben gestellt.“
„Was heisst Ansprüche ans Leben?“ fragte Cohn. „Kann man grössere Ansprüche stellen, als heiter und gesund sein? Nu? – In ganz Neutomischel konntst du rumgehen, hundert Jahre lang, von ein Haus ins andere –. De hättest keine Familie gefunden, die zufriedener war. Aber was nutzt das heut?“
„Ich mein’ auch, fürs Gewesene gibt der Jud’ nichts!“
„Oh!“ widersprach Cohn lebhaft – „sag das nich! das wär’ schlimm, wenn ich darauf sollt verzichten – davon leb’ ich – von meine Erinnerungen.“
„Ich fürchte, du wirst davon nicht satt werden, Papa?“
„Es gibt noch was anderes, Leopold, was man braucht zum Leben als ’n vollen Magen: das Herz. Was hat man von all die Herrlichkeiten, wenn se nur aussen bleiben und man se nich da innen fühlt.“
Leopold dauerte das alles viel zu lange.
„Und was soll nun werden, Papa?“ fragte er.
„Ich will dich nich lange damit aufhalten, dass ich dir erzähle, wodurch die Schwierigkeiten entstanden sind. Du weisst es ja auch, ich will dir daraus keinen Vorwurf machen – Gott behüte! Dass die Bestände, die du bei deinem Austritt mit hundertfünfunddreissigtausend Mark angegeben hast – und du wirst ja wohl deine Gründe dafür gehabt haben – nicht mehr als sechzigtausend Mark wert waren – nu, und auch die reinzubringen is mir bis heut nicht gelungen.“
„Du hattest seinerzeit dieselbe Möglichkeit, nachzuprüfen wie ich.“
„Hab’ ich!“ erwiderte Cohn.
„Was!“ fragte Leopold ganz erstaunt – „Du hast ... du wusstest also – und hast trotzdem meine Abrechnung gebilligt?“
„Was wär’ geworden?“ erwiderte Cohn. „Sollt’ ich dem Manne meines einzigen Kindes sagen, dass er mich – nu zum mindesten übervorteilt hat? S’ hätt mich mit meinem Kinde auseinandergebracht. Das war’s! Darum hab’ ich geschwiegen! Und dann: ich hoffte immer – du bist ein tüchtiger Geschäftsmann, wenn auch anders – leider! – als dein Vater und Grossvater – Gott hab’ se selig – es waren – aber ich hab’ immer gedacht, wenn du erst festen Fuss hier hast, denn wirst de eines Tages zu mir kommen – du verstehst – und das alles ausgleichen.“
„Und da ich nich zu dir gekommen bin, so kommst du heute zu mir! – Hm! ich verstehe! Um mir die Pistole auf die Brust zu setzen: entweder ich zahl’ dir die Differenz oder ...“
„Gott behüte!“ rief Cohn. „Was sind das für furchtbare Gedanken.“
Leopold atmete auf.
„Sondern?“ fragte er.
„Ich hab’ mer gedacht, de wirst genug mit dir selbst zu tun haben.“
„Allerdings!“ bestätigte Leopold. – „Das hab’ ich.“
„Nu eben, es is doch keine Kleinigkeit, in ’ner fremden Stadt festen Fuss zu fassen – wenngleich du ja – das soll nicht etwa ’n Vorwurf sein! ich bin immer für freie Konkurrenz eingetreten – den besten Teil meiner Kunden mitgenommen hat – aber lassen wir das!“
„Ich mein’ auch!“ erwiderte Leopold – „das bringt uns nur aneinander.“
„Eben! Darum hab’ ich mich auch nich an dich gewandt, als ich für die Dreimonatsakzepte am ersten April keine Deckung hatte.“
„An wen denn?“ fragte Leopold erstaunt.
„Ich bin zum Stadtrat Marcuse gegangen – de kanst dir denken, mit was für Gefühlen! – Dreimal hab’ ich den Klingelzug von seiner Haustür in der Hand gehabt und wieder losgelassen und bin umgekehrt – aber schliesslich, was half’s? – nu, er hat mich – für den Augenblick wenigstens – vor dem Schlimmsten bewahrt.“
„Nu also!“
„Und mehr als das! Er hat sich von mir genau erzählen lassen ...“
„Natürlich“, unterbrach ihn Leopold erregt – „hast du mir an allem die Schuld gegeben – obgleich du weisst, dass Stadtrat Marcuse gerade in Berlin grosse Beziehungen hat und mir, wenn er will, überall Knüppel zwischen die Beine werfen kann.“
„Geschämt hätt’ ich mich, von dir zu erzählen“, erwiderte Cohn. „Ein guter Jude hungert lieber als dass er’s eigene Nest beschmutzt. – Na, kurz und gut, er hat mir ’n Geschäft an die Hand gegeben, durch das ich – und der Marcuse schwätzt nicht – Millionen verdienen kann.“
Leopold, der bisher in seiner Korrespondenz geblättert hatte, schob alles beiseite und richtete sich auf.
„Sieh mal an!“ sagte er interessiert – „und warum macht er es nicht, wenn’s so glänzend is?“
„Marcuse ist neunundsiebzig – is Junggeselle – hat sein gutes Auskommen – wozu soll er sich den Kopf verdrehen? – nu, ich versteh’ das und wär’ nich anders, wenn ich nich müsste.“
„Und das Geschäft?“ fragte Leopold.
„Deshalb eben bin ich gekommen – also hör’ zu: Du kennst die Gelände unten an der Döberitzer Heerstrasse ...“
„Wo jetzt die grossen Kasernen und Uebungsplätze hinkommen sollen?“
„Richtig! Denk’ dir, Marcuse hat auf einen Teil der Gelände eine Option gegen Zahlung von zweimalhunderttausend Mark.“
„Nicht möglich!“ rief Leopold. „Das ist ja ein Millionenobjekt!“
„Gewiss is es das!“ erwiderte Cohn. „Na und ich kann dir auch verraten, dass der Fiskus den Ankauf der Gelände zu einem exorbitant hohen Preise bereits beschlossen hat. – N’ Köppchen der Marcuse! Alles weiss er, überall is er dabei!“
„Und was hast du davon? Hat er dir etwa versprochen, dass er dich als Erben einsetzt?“ fragte Leopold.
„Er hat mir die Option an der Hand gelassen!“
„Was? is er verrückt?“
„Die zweimalhunderttausend Mark müssen aber spätestens bis zum ersten April, das heisst in knapp drei Monaten, bezahlt werden. Sonst verfällt die Option und, de kannst dir denken, der Vorbesitzer verwertet das Gelände selbständig.“
„Vater!“ rief Leopold und sprang auf – „das is ja ein Glücksfall sondergleichen, zu dem man dir gratulieren kann.“
„Wo hab’ ich schon bis zum ersten April die zweimalhunderttausend Mark her?“ sagte Cohn.
Leopold lief im Zimmer umher und überlegte.
„Zweihunderttausend Mark!“ brabbelte er vor sich hin – „das is freilich kein Pappenstiel.“
„Wem sagst du das?“ erwiderte Cohn.
„Hast du Unterlagen? – Sicherheiten?“
Cohn kramte in seinen Taschen und zog einen ganzen Stoss von Papieren hervor, die er Leopold reichte.
„Ich dachte“, sagte Cohn – „natürlich zuerst an dich, dass du mir vielleicht – auf irgendeine Art – die Summe verschaffst. Denn am Ende kommt es ja eines Tages doch euch zugute – und dann: es kann euch ja auch nicht gleich sein – menschlich wie geschäftlich – wenn ich auf meine alten Tage noch in Konkurs gehe.“
„Das würde natürlich auch auf mein Geschäft zurückwirken“, erwiderte Leopold.
„Das hättest du nur früher bedenken sollen“, sagte Cohn. „Aber, gottlob, es is ja noch immer Zeit.“
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