Während er unterwegs ist, wollen wir untersuchen, wie die Annonce auf das Titelblatt der Zeitschrift kam, und müssen dazu um vierzehn Tage in unsrer Geschichte zurückgreifen.
Zwei junge Mädchen sitzen in einem reizend ausgestatteten Salon, dessen Hauptfarbe ein prachtvolles, sehr gut zu Gesicht stehendes Rosa ist.
Norma Lee lehnt müde in einem der tiefen Sessel und tut, als ob sie in eine wundervolle Shakespeare-ausgabe vertieft sei. Das Buch ist bei Romeo und Julia aufgeschlagen; im Theater hatte sie das Stück einmal zu Tränen gerührt, aber die kalten schwarzen Buchstaben vermochten sie nicht zu rühren wie die lebende menschliche Stimme, und allmählich hatte sie Julias Liebeskummer über ihrem eigenen vergessen.
Das andre Mädchen, blond und blauäugig, war in allem der schärfste Gegensatz zu der dunkeläugigen Schönheit. Obwohl älter, sah sie doch jünger aus mit ihrer schlanken, biegsamen Figur, die durch eifrig betriebenen Sport gestählt war. Ein anschliessendes Kleid hob die vollkommene Gestalt. Niemand hätte in diesem zierlichen Geschöpf die berühmte Geheimpolizistin Dora Myrl gesucht, deren feiner, scharfer Verstand die geriebensten Verbrecher gemeistert, und deren kaltblütiger Mut den grausigsten Gefahren Trotz geboten hatte. Frisch und fröhlich wie ein Vögelchen an einem sonnigen Frühlingsmorgen, war sie ebenso lebendig und auf dem Posten, wie ihre Freundin mutlos und verzagt. Sie schrieb eifrig mit einer Füllfeder, brauchte aber kein Löschblatt, sondern liess die Tinte auf dem Papier eintrocknen. In dem Zimmer herrschte Totenstille, bis sie ihre letzte Seite beendet und die beschriebenen Blätter in einen festen Umschlag gesteckt hatte, den sie sorgfältig siegelte, wobei sie ihr Petschaft mit einer Sphinx benutzte. Dann drehte sie sich in ihrem Schreibtischstuhl herum. „Träumst du noch immer, Norma?“
„Wie kannst du mich so etwas fragen, Dora?“
„Also sagen wir, grämst du dich noch immer, wenn dir das besser gefällt?“
„Habe ich dazu nicht genügend Grund? Der plötzliche Tod meines Vaters und —“
„Und was noch?“
„Wie kannst du nur so hässlich sein. Ich stehe nun mutterseelenallein, ist das nicht traurig genug?“
Im nächsten Augenblick sass Dora Myrl auf der Lehne des Sessels. „Rechnest du mich für gar nichts? Lass nur, vergeude deine Küsse nicht an mich, ich bin nicht eifersüchtig und weiss recht gut, dass du von mir so viel hältst, wie du unter den gegebenen Verhältnissen von einem weiblichen Wesen halten kannst. Warum bist du nicht aufrichtig, kleine Heuchlerin? Du trauerst um deinen Vater, aber ebenso sehr um jemand anders.“
„Oh! Dora,“ rief Norma, „glaubst du, dass ich ihn jemals wiedersehen werde?“
„Natürlich, wenn du nur willst.“
„Ach, Liebste, ich wusste wohl, dass du mir helfen würdest.“
„Weshalb hast du mich denn nicht um meine Hilfe gebeten?“
„Ich schämte mich ein wenig.“
„Schämen,“ rief Dora empört, „ein Mädchen braucht sich ihrer Liebe nie zu schämen, wenn der Mann ihrer würdig ist, und davon ist man doch immer überzeugt, wenn man verliebt ist.“
„Hast du dich je verliebt, Dora?“ fragte Norma, überrascht durch die plötzliche Wärme im Ton dieser selbstsicheren kleinen Person.
„Niemals, leider! Ich glaube, ich habe kein Herz. Im ganzen habe ich die Männer lieber, als meine Geschlechtsgenossinnen; ich lache und scherze gern mit jungen Leuten und amüsiere mich mit ihnen. Liebe Freunde sagen von mir, dass ich entsetzlich flirte; das tue ich in Wahrheit aber gar nicht, wenn mit Flirten gemeint ist, dass man glauben macht, man sei in einen Mann verliebt. Ich habe kein leichtes Leben, Norma, trotz meinen Erfolgen und freudigen Stunden. Und wenn ich mich recht einsam fühle, dann möchte ich mich wohl verlieben, so wie man es immer in Gedichten und Romanen findet, und zuweilen wohl auch mal im wirklichen Leben — so wie du zum Beispiel, Norma. Ich möchte einen Mann ganz zu eigen haben und — weshalb soll ich es nicht eingestehen — auch Kinder; dann möchte ich gern so echt weiblich sein wie du, Norma. Du weisst gar nicht, wie sehr ich dich manchmal beneide.“
„Ich bin doch wahrlich nicht zu beneiden, eher zu bemitleiden. Er ist ganz aus meinem Leben geschwunden und vielleicht schon lange tot.“
„Er ist nicht tot,“ erwiderte die andre munter mit ihrer alten frischen Lebhaftigkeit, „und er liebt dich, wie du ihn liebst, das ist die Hauptsache.“
„Was nützt das, wenn ich ihn nicht finden kann?“
„O, wir werden ihn schon finden.“
„Aber wie?“
„Du weisst doch, wie man Polizeihunde auf eines Menschen Spur setzt? Man gibt ihnen etwas, was der Betreffende an sich trug. Nun musst du dir in mir solch einen Polizeihund vorstellen.“
„Du kommst mir viel eher wie ein Schosshündchen vor.“
„Seien Sie nicht unverschämt, mein Fräulein! Du trägst ein Medaillon um den Hals, das diesem jungen Mann gehörte.“
„Dora, woher weisst du, dass es ihm gehörte?“
„Weil dein Bild darin ist. Mädchen tragen ihr eigenes Bild nicht ohne Grund unter der Taille auf der Brust. Norma, dies Medaillon wollen wir als Lockspeise benutzen; wir wollen es annoncieren.“
„Das nützt nichts, er liest wenig Zeitungen und erst recht keine Annoncen.“
„Wie heisst seine Lieblingszeitschrift?“
„Auch darin sieht er nie die Anzeigen an.“
„Na, wir setzen es eben dahin, wo er es sehen muss, auf das Titelblatt.“
„Ist das möglich?“
„Natürlich, Schäfchen. Ich kenne die Leute und glaube, dass sie es wohl für mich tun werden, sonst tun sie es jedenfalls für Geld. Lass mich nur den Köder in die Falle hängen für dein scheues Vögelchen.“
Schon nach einer Woche ging Philip Armitage in die Falle. Er trat in Dora Myrls Salon und wurde von diesem munteren Menschenkind empfangen.
„Ihr Medaillon?“ sagte sie auf seine eifrige Frage, „o, ich denke wohl, dass es das Ihrige sein wird. Das Bild ist darin, sagen Sie? Ja, das stimmt! Und ein recht hübsches Mädchen sogar,“ setzte sie mit einem schnellen Seitenblick und einem spitzbübischen Lächeln hinzu.
„Diese Frage möchte ich hier nicht erörtern,“ wehrte Armitage steif ab. „Wenn Sie die Freundlichkeit haben wollen, mir das Medaillon zurück zu geben, so bin ich gern bereit, eine entsprechende Belohnung zu zahlen.“
„Ich habe das Medaillon nicht gefunden,“ erwiderte sie lachend. „Ich verlange keine Belohnung, glaube auch, dass Sie sie der Finderin viel lieber werden zukommen lassen; freilich besteht sie auf voller Bezahlung.“
Armitage vernahm einen zornigen Ausruf hinter sich und sah, als er sich umwandte, ein junges Mädchen aus ihrem Stuhl hinter einem japanischen Wandschirm aufspringen. Norma Lee kam mit ernstem Gesicht auf ihn zu. „Kümmern Sie sich nicht um das übermütige Geschöpf, Mr. Armitage,“ rief sie. „Hier ist das Medaillon; ich freue mich, dass Sie es wieder haben möchten.“
„Die Belohnung,“ rief Dora, „vergesst die Belohnung nicht!“ und verliess rasch das Zimmer.
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