„Ich glaube doch“ — wollte Andersen einwenden, aber Neubrunn war jetzt im Zuge und ließ sich nicht mehr aufhalten.
„Die Schuster und Schneider kämpfen um den Besitz der Welt auch auf geistigem Boden. Der Schneider ist der historische Mensch, der Mensch der Wissenschaft, des planmäßigen Aneinandernähens, der Stückler und Wiederauftrenner des Geistes, aber mit dem Schuster fängt die Welt immer von vorne an, er ist wie die Kunst um seiner selbst willen da. Der Schuster, ja, was wollte ich noch sagen —?“
Hier blieb er stecken, denn der schwere Pomino stieg ihm in den Kopf und begann ihm den Faden zu verwirren. Paul Andersen wollte die kleine Pause benützen, um auch einmal zu Wort zu kommen, aber Neubrunn fuhr gleich wieder dazwischen.
„Zwei andere große Verkörperungen des Schuster- und Schneiderprinzips: Danton und Robespierre. Danton mußte durch die Hand der Charlotte Corday fallen —“
„Das war ja Marat“, wandte Andersen ärgerlich ein.
„Laß mich in Frieden, historischer Mensch! Ich weiß, er fiel durch Robespierre, das stimmt ja noch viel besser in meine Theorie. — Aber das war nicht, was ich sagen wollte — du hast mich ganz aus der Reihe gebracht, weil du immer allein reden willst.
Ich wollte sagen: es gibt ganze Schusterjahrhunderte, in denen die Menschheit sich mit einem Male verjüngt. So war die Renaissance ein großer Triumph des Schustertums, wie die Welt keinen größeren gesehen hat, und wurde von der Reformation recht schneidermäßig abgelöst. Doch ich brauche nicht in so entlegenen Zeiten umherzuirren. Gleich hier an unserem Tisch sind die beiden Klassen in ausbündiger Reinheit vertreten: in mir wird niemand das Schusternaturell verkennen, und hier sitzen zwei allerliebste Exemplare der Schneiderspezies: mein lieber Freund Paul Andersen und Fräulein Lydia. Paul Andersen fühlt den Beruf, mit seinem sauersten Schweiß, der ihm selbst zugute kommen könnte, einen fetten Bankier noch fetter zu mästen, und meine schöne, verehrte Freundin reibt sich auf, um die sieben Rangen der dicken Madame Esselin großzuziehen, statt all die viele Not und Mühe wenigstens an ihre eigene Brut zu wenden. Ja, wenn nur das Warten und Sparen immer ans Ziel führte, aber es ist etwas gar zu Trauriges um einen Schneider, der sein Zeug zu kurz geschnitten hat.“
Als er sah, daß Lydia bei seinen Worten rot und blaß wurde und daß auch Paul Andersen verlegen vor sich hinsah, lenkte er rasch ab und steuerte wieder hinaus ins Meer der Allgemeinheit.
„Es ist traurig“, sagte er, „daß in der Welt das Talent zu einem freien, frohen Schustertum ganz zu erlöschen droht. Blicken wir uns um im Leben, in der Kunst, in der Literatur, was sehen wir? Keinen Griff ins Volle, kein ganzes Menschentum, keine Freude am Sein, die sonst ihr Licht über weite Kulturstrecken warf — überall Nebenzwecke, soziale Probleme, Erdenangst, der Krampf der Nadel, engster Schneidergeist. Meine Freunde, treten wir zusammen, gründen wir einen Schusterbund, einen Bund der Glücklichen und Freien. Werden wir, wie die Griechen waren. Nicht Stich für Stich mit der feinen, spitzen Nähnadel, mit der breiten Schusterahle wollen wir unser Leben zusammenschustern. Reichen wir uns alle die Hände, und du, Andersen, erlaubst mir gleich einmal, daß ich die Lydia küsse.“
Dies war getan, noch bevor die Erlaubnis erteilt werden konnte. Unterdessen war man mit dem Essen fertig geworden und Pomona drängte zum Aufbruch nach der frischeren Terrasse. Dadurch wurde jedoch die Unterhaltung nicht gestört, denn Neubrunn redete auch auf der Treppe immer weiter und die andern drängten sich lachend an ihn, um keines seiner Worte zu verlieren. Der kleine schwarzköpfige Italiener trug ihm die Zigaretten nach, von denen er die Gewohnheit hatte, immer zwei zugleich in den Mund zu stecken, wogegen Paul Andersen niemals rauchte.
Oben angekommen, zog er eine Champagnerflasche aus dem Eis und entkorkte sie vorsichtig, dann schenkte er die Kelche voll. Aber auf einmal kam ihm ein anderer Gedanke, und er erlaubte nicht, daß jemand trank, bevor er alle Anwesenden mit Efeuranken bekränzt hatte.
Lydia reichte er noch überdies einen langen blühenden Orangenzweig und sagte: „Lassen Sie die Papiere laufen und machen Sie unsern armen Schneider glücklich. Schlechter als im fremden Haus werden Sie es auch bei ihm nicht haben. Also, ehe das schöne Gold auf diesem Scheitel bleicht und die Rosen welken, fassen Sie das Glück am Schopf und halten es fest, solang Sie können.“
Paul Andersen trat zwischen beide und faßte Lydias Hand. Die Lebenslust des Freundes hob ihn wie auf Adlersflügeln empor, daß er alle Angst der Erde tief unter sich sah, aber er wollte ihm doch den Ruhm der Anregung nicht lassen.
„Du sprichst nur aus, was zwischen uns beiden heute abend stillschweigend vereinbart worden ist. Lydia verläßt das Esselinsche Haus, und wir heiraten so schnell wie möglich.“
Lydia hielt Pauls Hand, und ihr ganzes Gesicht strahlte. Pomona, die mit dem nickenden Kranz auf ihrem pechschwarzen Scheitel heute wirklich einer ländlichen Gottheit glich, beglückwünschte die beiden geräuschvoll.
Karl Neubrunn erhob sein Glas und rief: „Ich trinke auf den Übertritt zweier edler Mitglieder der Schneidergilde in die tapfere Schusterzunft. Es lebe der künftige Schustermeister und seine Frau Schustermeisterin!“
Die Gläser klangen, die Männer schüttelten sich die Hände, die Braut fiel der Wirtin um den Hals, die ihr in den Schwierigkeiten ihres neuen Lebens als Freundin und Beraterin zur Seite zu stehen versprach.
Bei Neubrunn aber wurde jetzt der Rausch immer fühlbarer, denn er begann in alle Einzelheiten des künftigen Hausstands einzugehen: „Ich habe an alles gedacht. Zwei Zimmer habt ihr schon, das Atelier und das Schlafzimmer; was die Küche betrifft, so könnt ihr die meinige benützen, ich gebrauche sie ja nie, und Pomona räumt euch ihre Garderobe zum Kinderzimmer ein. Ohnehin, wenn die Kleinen zu wild werden, dann schickt ihr sie zu mir, ich werde euch bei der Erziehung behilflich sein. Der Erbonkel ist auch schon im Haus. Ich selbst habe keine Kinder, nein, lacht nicht, es ist wirklich so — ich werde die eurigen dafür ansehen — sie sind es ja auch gewissermaßen, da ich ihr geistiger Urheber bin — und wenn ich einmal aus der Welt gehe — viel hab ich ja nie besessen —“
Hier überkam ihn die Rührung, daß er einen Augenblick inne hielt, denn er schämte sich zu weinen. Die Wirtin, die einiges verstanden haben mußte, trocknete Tränen ab und seufzte: „Oh che cuore, che cuore!“
Als die Flaschen geleert waren, hatte Neubrunns Zustand einen so bedenklichen Grad erreicht, daß er selbst die Gefahr empfand, die in einem längeren Verweilen lag, und daß er mit einer geschickten Schwenkung den Rückzug einleitete.
„Giorgino, leuchte dem Herrn Baron“, rief Pomona ihrem Jungen zu und fügte leise bei: „Und gib auf der Treppe Achtung, daß er nicht fällt.“
Der Junge griff nach dem Leuchter, aber Neubrunn wehrte ihm ab: „Schöner Knabe“, sagte er, schon etwas zungenschwer, „wenn ich ein Grieche wäre, so wollte ich dich besingen wie Anakreon den Bathyllos —“
Hier besann er sich und machte Miene, den griechischen Vers zu zitieren; da ihn jedoch sein Gedächtnis im Stiche ließ, fuhr er fort: „So aber gehören meine Huldigungen deiner Mutter. Pomona, reichen Sie mir Ihren Arm, ich brauche kein anderes Licht als Ihre Schönheit, um mir zu Bette zu leuchten.“
Andersen wollte ihn bis an seine Tür begleiten, aber Neubrunn ließ es nicht zu, sondern bestand darauf, am Arm Pomonas die Treppe hinabzusteigen, was sie auch lachend gewährte. „Che cuore!“ sagte sie wiederholt, und beim Abschied drückten sich alle mit überwallendem Gefühl die Hände und dankten sich gegenseitig für den herrlichen Abend.
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