LUNATA
Erzählungen I
Erzählungen I
© 1893-1897 by Rainer Maria Rilke
© Lunata Berlin 2020
Die Erzählungen Die Erzählungen Wenn es einmal irgendwo einen Schaffenden gegeben hat (und ich rede von den Schaffenden, weil sie zu den Einsamsten gehören) der in Tagen unsäglicher Sammlung die Welt eines Werkes schuf, kann es sein, daß dieses Lebens Fortschritt und Ferne uns verloren gegangen ist, weil die Zeit seines Werkes Gestalt zerschlagen hat, weil wir es nicht besitzen? Spricht nicht vielmehr die sicherste Stimme in uns davon, daß der Wind, der in dem werdenden Werke war, über seine Ränder hinaus gewirkt hat auf Blumen und Tiere, auf Niederschläge und Neigungen und auf die Geburten der Frauen? Wer weiß, ob nicht dieses Bild, diese Statue oder jenes vergangene Gedicht nur die erste und nächste unter vielen Verwandlungen war, die des Handelnden Kraft im Augenblicke ihrer Verklärung vollzog? Die Zellen entlegener Dinge haben sich vielleicht nach den entstehenden Rhythmen geordnet, der Anlaß zu neuen Arten war da, und es ist nicht unmöglich, daß wir anders geworden sind durch die Macht eines einsamen Dichters, der vor Hunderten von Jahren gelebt hat und von dem wir nichts wissen. Oder gibt es jemanden, der im Ernste meint, eines Heiligen Gebet, der unsäglich verlassene Sterbetag eines Kindes oder die Einzelhaft eines großen Verbrechers könnten so zergangen sein wie ein Ja und ein Nein oder wie der Lärm einer Türe, die zufällt? aus: Fragment von den Einsamen, 1903
Das Christkind
Pierre Dumont
Die Näherin
Die goldene Kiste
Mohn ...
Ein Charakter
Und doch in den Tod
Das Ereignis
Der Sterbetag
Die Flucht
Weißes Glück
Die Stimme
Eine Tote
Der Apostel
Ihr Opfer
Im Vorgärtchen
Sonntag
Heiliger Frühling
Das Familienfest
Das Geheimnis
Der Totengräber
Greise
Kismét
Alle in Einer
Einig
König Bohusch
Die Geschwister
Wenn es einmal irgendwo einen Schaffenden gegeben hat (und ich rede von den Schaffenden, weil sie zu den Einsamsten gehören) der in Tagen unsäglicher Sammlung die Welt eines Werkes schuf, kann es sein, daß dieses Lebens Fortschritt und Ferne uns verloren gegangen ist, weil die Zeit seines Werkes Gestalt zerschlagen hat, weil wir es nicht besitzen? Spricht nicht vielmehr die sicherste Stimme in uns davon, daß der Wind, der in dem werdenden Werke war, über seine Ränder hinaus gewirkt hat auf Blumen und Tiere, auf Niederschläge und Neigungen und auf die Geburten der Frauen? Wer weiß, ob nicht dieses Bild, diese Statue oder jenes vergangene Gedicht nur die erste und nächste unter vielen Verwandlungen war, die des Handelnden Kraft im Augenblicke ihrer Verklärung vollzog? Die Zellen entlegener Dinge haben sich vielleicht nach den entstehenden Rhythmen geordnet, der Anlaß zu neuen Arten war da, und es ist nicht unmöglich, daß wir anders geworden sind durch die Macht eines einsamen Dichters, der vor Hunderten von Jahren gelebt hat und von dem wir nichts wissen. Oder gibt es jemanden, der im Ernste meint, eines Heiligen Gebet, der unsäglich verlassene Sterbetag eines Kindes oder die Einzelhaft eines großen Verbrechers könnten so zergangen sein wie ein Ja und ein Nein oder wie der Lärm einer Türe, die zufällt?
aus: Fragment von den Einsamen, 1903
»Gestorben« stand in gleichgültigen, brutalen, feuchtleuchtenden Lettern in dem dicken, grünen Krankenhausbuch. In derselben Zeile war zu lesen: II. Stock, Zimmer 12, Nummer 78. Horvát, Elisabeth, Försterstochter, 9 Jahre alt.
Der frühe Februarabend sah wie mit rotgeweinten Büßeraugen, müd und mürrisch, in das Zimmer 12. Die grau-weißen Wände der Krankenstube schienen in dem gleichfarbenen Dämmer zu zerfließen, und das schwarze Holzkreuz schwebte frei in der Luft. Die Eisenbetten waren in verschwommenen Umrissen sichtbar. Die dämmerige Atmosphäre lag wie ein Bann auf den Kindern, deren je zwei ein Lager teilten. Irgendwo in dunkler Ecke weinte eines trostlos und leise, ein anderes erzählte mit weicher, vorsichtiger Stimme, als ob es am Bett der kranken Mutter säße, und ein kleines Mädchen, dem Fenster zunächst, hockte aufrecht in den Kissen, die Arme um die aufgestemmten Knie geschlungen. Sein Profil und die rundliche Schulter hoben sich scharf als Silhouette ab von dem blaßgrauen Fenster. Und die karbolsatte Luft war so dicht, daß es schien, als prallten die schüchternen Laute des plaudernden Mädchens an ihr ab, und nur das versteckte Weinen aus der dunkeln Ecke bohrte sich mit spitzen Tönen in das Dämmer. So ist es im Wald an den Nebelnachmittagen des Frühherbstes: Die Stimmen aus Bach und Kraut versickern in dem Dunstmeer, und nur das Wimmern windgequälter Wipfel zittert durch den einsamen Tann.
Jetzt trat die wartende Schwester zärtlichen Schrittes in die Stube ein. Sie entzündete die Gasflamme, die, hinter grünem Zeug versteckt, an der Mittelwand des Zimmers angebracht war. Das mondscheinfarbene Licht flutete weich wie eine an flachem Sande landende Welle durch den Raum und beleuchtete fast gleichmäßig die fünf Eisenbetten. Die Schwester aber schob den Vorhang ein wenig beiseite: ungehemmt, mit rücksichtsloser Gewalt brach das grelle, rote Licht hervor. Eines von den mattschwarzen Wandtäfelchen war jetzt voll beschienen; es trug die Nummer 78. Das Bett darunter war zerwühlt und leer. Die Schwester trat hinzu, entfernte die Linnen und glättete die Matratzen.
Die Kinder waren alle verstummt. Sie folgten jeder Bewegung der Schwester mit geblendeten, lichtscheuen Blicken. Sogar die Kleine in der Ecke weinte nicht mehr. Sie saß aufrecht, den Kopf in beide Fäustchen gepreßt, und unter der schneeweißen Stirnbinde glühten ihre Augen, groß, wie eine einzige dunkle Frage.
Die Wärterin warf ihr die Puppe, die sie im verlassenen Lager gefunden, in den Schoß. Das Kind zuckte nur leicht zusammen und rührte das Spielzeug nicht an. Als starrte es in eine grelle vernichtende Flamme, sprühte in seinen Fieberaugen ein unsteter, flackernder Widerschein auf. Und in unbestimmtem Bangen verkroch sich das Kind, das das Bett mit ihm teilte, unter die Decke.
Da wandte sich die Kleine beim Fenster, und ihre Stimme war wie ein Sonntagslied:
»Ist die Betty jetzt ein Engel?«
Die Schwester nickte und lächelte und breitete mit ihren weißen Händen die hellblaue Hülldecke über das leere Bett.
Der Tod ist ein Nummerwechsel. Die kleine Elisabeth lag jetzt drunten in der Kammer, deren weiße Außenwände sie oft vom Fenster aus gesehen hatte. Sie war kleiner geworden und brauchte mit ihren abgefrorenen Füßchen wenig Raum in dem schlichten Holzbett, an dem schon die neue Nummer angeheftet war. Die Nummer der Grube da draußen. Die war schon bereit; aber sie gähnte nicht schwarz wie der Rachen eines Untiers. Die hereinbrechende Nacht begann ein schimmerweißes Schneelinnen hineinzuweben, so daß der Platz nett und verlockend aussah wie das Bettchen reicher Kinder. Und die kleine Betty in der stillen Kammer lag so ruhig und getrost da, als wüßte sie das. Die wachsweißen Händchen hielten, wie spielend, ein kleines Holzkreuz, das Haar sonnte wie ein Heiligenschein aus der Spitzenwolke des Sterbekissens, und um die dünnen, blassen Lippen blühte ein wehmütiges Lächeln; so schlingt sich ein Kranz Immortellen um ein vergilbtes Gebetbuchblatt.
Lächelte sie, weil sie schon die liebe Mutter gesehen hatte, die sie nun seit vier Jahren beim lieben Gott erwartete? War die kleine Seele schon auf jungen, schimmerweißen Falterflügeln durch die grauen Nebel, an lauter lächelnden Sternen vorbei, in die ewige Heimat geflogen? Flatterte sie schon über die weite Milchstraße, wo so viele fleißige Engel sitzen, die immer neue Sterne blasen, wie die Kinder auf Erden Seifenkugeln? War sie leicht gar schon nahe beim lieben Gott, der einen großen, silbernen Bart haben mußte und eine große, leuchtende Krone?
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