Und als der Doktor ging, sagte er: „Vergessen Sie nicht, rotes Papier um die Lampe zu wickeln und die Fenster zuzuziehen. Sie müssen auf die Augen des Mädchens achtgeben. Es reicht eben nicht, daß Sie selbst immer eine rote Brille tragen!“
Dann fuhr er weiter zur nächsten Patientin. Draußen am Moor lebte eine Frau, die entsetzlich an Ausfluß litt.
Der gelbe Linienbus hatte am Dorfkrug, der historisch war wie viele andere, Endstation. Dort ruhte er sich eine Weile aus, der Chauffeur aß im Krug seine belegten Brote, trank dazu eine Tasse Kaffee-Ersatz und las in der Kreiszeitung von den neuesten Unglücksfällen.
Und Olsen ging mit neuem Mantel und Pelzmütze die Allee nach Frydenholm hinauf.
Es gibt Menschen, die „bessere Leute“ genannt werden, und es gibt Kreise, die „bessere Kreise“ genannt werden. Andere Kreise sind nicht so gut, andere Menschen sind einfach und alltäglich, sind Krankenkassenmitglieder, sind „der gemeine Mann“.
Olsen verkehrte in den besseren Kreisen, ja, er verkehrte in den allerbesten Kreisen. Die Gesellschaft brauchte Olsens Dienste. Der Staat stützte sich auf ihn. So weit war es mit dem Staat gekommen, daß er Egon Charles Olsens Unterstützung brauchte. Es hatte eine Zeit gegeben, da Olsen vor der Polizei Angst hatte und jedesmal feuchte Hände bekam, wenn er auf der Straße an einem Polizisten vorbei mußte. Nun ging er in den Säulenhallen und Geheimkabinetten des Polizeipräsidiums ein und aus wie ein Sohn des Hauses. Der Polizeichef drückte ihm die Hand. Olsen bekam keine feuchten Hände mehr beim Anblick eines Polizisten. Reichspolizeichef Rane, der Beamte mit dem Künstlerschlips, war ihm eher ein Freund als ein Vorgesetzter.
Wenn Olsen nun nach Frydenholm kam, dann nicht, um mit Graf Preben über Staatsangelegenheiten zu sprechen. Es handelte sich um eine kleine private Affäre, eine Bagatelle im Gesellschaftsleben. Da war eine Dame des besseren Bürgertums, die glaubte, vom Grafen vergewaltigt worden zu sein, nachdem er sie in seiner Wohnung in der Hauptstadt betrunken gemacht hatte. Nun versuchte sie, ihn ein wenig zu erpressen.
So ging es in den besseren Kreisen zu. Das war keine aufsehenerregende Geschichte, aber dem Grafen war daran gelegen, seine Betriebskosten so niedrig wie möglich zu halten. Sicherlich könnte man über die Dame, die er nur flüchtig kannte, etwas in Erfahrung bringen, und es wäre wichtig, einen Zeugen zu haben. Es war Olsens Beruf, zu bezeugen und Auskünfte über Leute zu beschaffen. Er belieferte die höchsten Behörden. Der Reichspolizeichef selbst konnte ihn empfehlen.
Olsen wußte gut auf Frydenholm Bescheid. Er war seinerzeit Diener im Schloß gewesen und kannte einen Teil seiner Geheimnisse. Später hatte er ein Stück Detektivarbeit für C. C. Skjern-Svendsen geleistet, als der Gutsbesitzer seine Frau für geisteskrank erklärt haben wollte. Nun war es Graf Preben, der den Fachmann herbeirief, und der bleiche Diener Lukas ließ den Gast durch die Hintertür ein, wie er es so oft getan hatte, ohne sich zu wundern und ohne zu fragen. „Guten Tag“, sagte er nur. „Na, kommst du auch mal wieder?“
„Ja“, sagte Olsen. „Da bin ich wieder!“
Der Graf brauchte seine Hilfe, ebenso wie die Staatsmacht sie benötigte. Der Graf hatte wohl von Olsens Arbeit für Skjern-Svendsen gehört. Vielleicht auch hatte er Olsen in einer Weinstube im Zentrum Kopenhagens kennengelernt, wo sich so viele interessante Persönlichkeiten trafen. So weit war es gekommen: Die Unterwelt und die Oberwelt vereinigten sich. Das war ein Entwicklungsstadium.
Lukas bemerkte, daß Olsen und der Graf sich wie alte Kameraden und Herzensfreunde begrüßten, mit Schulterklopfen und freundschaftlichen Püffen in den Bauch. Guten Tag, alter Freund. Spendierst du ein Glas?
Die Konferenz der Herren ging bei einem Kasten Bier vonstatten. Zwischen den beiden gab es keine feierlichen Formalitäten. Man kam gleich zur Sache. Wieviel willst du dafür haben, ein Weibsbild zu kompromittieren? Was kostet eine Zeugenaussage? Es war nicht schwer, sich zu einigen.
Olsen hatte viele Eisen im Feuer. Staatsangelegenheiten und Affären in den besseren Kreisen des Landes nahmen seine Zeit in Anspruch. Er reiste zwar nicht wie der Schriftsteller François von Hahn in einem blankgeputzten Polizeiauto, hatte aber dieselben vornehmen Freunde und Verbindungen und kümmerte sich noch um seinen Stammtisch im Café Fidusen, wo sich Dichter und Studenten gern von unbekannten Gewerbetreibenden freihalten ließen.
Schließlich gab es noch die kleine Druckerei in der Stengade im Nørrebro-Viertel; dort hatte Olsen einmal gearbeitet, und nun fand er sich ab und zu bei Buchdrucker Damaskus und seinen altruistischen Kunden ein, um sie zu begrüßen. In dem kleinen Büro, in dem drei große Plüschsessel standen und Berge von Drucksachen herumlagen, ging es zu wie in einem Klub, wo sich Idealisten trafen und über die höchsten Dinge diskutierten.
„Damaskus-Druck“ verkündete ein emailliertes Schild am Torweg, und eine Hand mit Manschette wies in einen Hof, wo Tonnen und Kisten aufgestapelt waren und ständig einige Männer mit dem Transport von Kisten zu tun hatten. An der Rückseite des Hofes war eine Eisentreppe, und eine zweite Hand zeigte schräg hinauf zur Druckerei, von wo man Maschinenlärm hörte, wo es nach Druckerschwärze und Petroleum roch und wo idealistische Gedanken mit Hilfe einer älteren Presse und einiger der kleinen, schnellen Maschinen, der sogenannten Fliegenklatschen, vervielfältigt wurden. Zu Olsens Zeit hatte es zwei Pressen gegeben, aber immer wieder waren Eisenteile verschwunden, die für die Maschinerie lebenswichtig waren, und nun reichten die Teile nur noch für eine Presse.
Buchdrucker Damaskus war überzeugt, daß an Olsen nichts Übles war, doch er hielt ihn für einen schwachen Menschen. Nicht ohne Sorge sah er Olsen in einem feinen neuen Wintermantel mit Pelzkragen eintreten. Er fürchtete wohl, der schwache Mann sei in schlechte Gesellschaft geraten, und erkundigte sich vorsichtig nach Olsens neuer Arbeit.
Es war nie Olsens Gewohnheit gewesen, mit Damaskus über seine privaten Geschäfte zu sprechen, zudem liebte er Fragen nicht. „Soll das vielleicht ein Verhör sein?“ empörte er sich. „Wird man mich immer und ewig verdächtigen, wenn ich hierherkomme? Gut! Ich kann auch wegbleiben!“
„So etwas dürfen Sie nicht sagen, Olsen. Ich freue mich wirklich, wenn es Ihnen gut geht“, antwortete Damaskus und sah seinen ehemaligen Mitarbeiter freundlich an. Er wünschte Olsen und allen Menschen nur das Beste. Aber er hatte so seine Sorgen, wenn es Olsen gut ging und wenn er flott gekleidet war. Damaskus fragte sich, ob Olsen in schlechte Gesellschaft geraten sei.
Und Olsen erstattete im Polizeipräsidium Bericht über die Idealisten in der Stengade. Da war zum Beispiel cand. phil. Sivertsen, ein kleiner, hitziger Mann mit weißem Haar, schwarzen Augenbrauen und schwarzem Schnurrbart. Er lebte von einem bescheidenen Vermögen und entfaltete eine sonderbare politische Tätigkeit, für die sich die Sipo interessieren sollte. Cand. phil. Sivertsen hatte die GAV-Bewegung ins Leben gerufen – diese Buchstaben bedeuteten: Geographie, Ausbeute, Verbrauch –, und das war keine gewöhnliche politische Partei. Es war eine Partei über allen Parteien, eine Liga und eine Volksbewegung, die beabsichtigte, das Geld auf der Welt abzuschaffen und statt dessen ein System von Währungen zu errichten. Damit wollte Sivertsen den Kapitalismus zerschmettern, denn die Währungen konnten weder gespart noch verzinst werden, da ihr voller Tauschwert nur für den Tag galt, an dem sie als Lohn gezahlt wurden; man mußte sich beeilen, für alle seine Währungen schon am Lohntag einzukaufen, denn es war beabsichtigt, daß sie von Tag zu Tag an Wert verloren, und am folgenden Zahltag sollten sie völlig wertlos sein. Auf diese Weise würde man die Kauflust, demzufolge den Umsatz von Waren und damit wiederum die Produktion steigern wie nie zuvor; alles würde blühen und gedeihen, niemand wäre mehr arbeitslos, Wohlstand und Glück würden auf Erden herrschen. Kandidat Sivertsen verstand es, sein System sehr einleuchtend und klar in Rede und Schrift darzulegen, und nur der Student Skodsborg widersprach ihm eigensinnig.
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