Sie waren zu wenige, als daß der Psalmengesang wie in der ersten, fruchtbaren Zeit richtig brausen und sich erheben konnte. Allzu viele waren abgefallen. Niels Madsens Frau kam zwar noch getreulich, doch sie war kein fröhlicher Christ, sie war wortkarg und griesgrämig, und ihr Anteil am Gesang war nur ein mißvergnügtes Brummen. Höschen-Marius’ Wirtschafterin kam, obwohl Marius es nicht wünschte; sie war übrigens nicht mehr Wirtschafterin, sondern Ehefrau, wenn bei den beiden darin überhaupt ein Unterschied bestand. Marius war kein junger Mann mehr und für die Liebe mit lebenden Menschen kaum tauglich; aber er hatte ja Geld, das Vermögen der Eltern, und das würde er natürlich als Erbe hinterlassen. Das war es wohl, womit sie rechnete. Dieser Ehe würden bestimmt keine Kinder entspringen, alles würde also ihr zufallen. Sie weckte eifrig ein, das mußte man ihr lassen. Es gab Marmelade, Saft und Gelee für mehrere Jahre im Hause, obwohl Marius die süßen Sachen sehr liebte und eine Menge davon aß.
Wenn sie ihn nun obendrein bewegen könnte, sich die Nase zu putzen, dann hatte sie etwas fürs Geld geleistet; denn der Rotz hing ihm immer im Schnurrbart, wenngleich er diesen jetzt – wie eine gewisse Person – ganz kurz geschnitten trug; es sah schrecklich aus, wenn er bei dieser Kälte mit Eiszapfen unter der Nase herumlief. Da ging der lange Kerl jeden Tag zum Kaufmann und kaufte gemischte Bonbons, und er ließ sich viel Zeit dabei, denn er wollte gern mit den Leuten über das System und über den jüdischen Sozialismus diskutieren, die ja das Land verheerten. Viele amüsierten sich über seine Darlegungen. „Wie du das alles so im Kopfe hast, Marius! Wo hast du das nur her?“
Ja, wo hatte Marius das her? Er war nie ein strahlendes Talent gewesen. Er besaß ein paar Hühner und Gänse, und selbst die konnte er kaum bändigen. Sein Brot vermochte er damit nicht zu verdienen. Als er fünfzig Jahre alt war, hatte noch seine Mutter ihm die Nase putzen müssen, und er hatte nur des Sonnabends Bonbons bekommen. Seine Mutter war eine kleine, fleißige Frau gewesen, die es verstanden hatte, den großen Sohn zu einer Art Arbeit anzuhalten. Als sie starb, hörte er damit auf. Und seine sonderbare Leidenschaft für Damenhöschen hatte ihn mehreremal in Ungelegenheiten gebracht, seit sie nicht mehr auf ihn aufpassen konnte.
Nicht Weisheit und geistige Gaben waren es, die Marius jetzt so merkwürdig auftreten ließen. Aber er war Arier, und das konnte ihm niemand nehmen. Er gehörte der nordischen Edelrasse an, der es bestimmt war, die Welt zu beherrschen. Auf irgendeiner Versammlung hatte er von diesen Dingen gehört, und es mußte ihn wohl tief ergriffen haben, ein Wesen von Wert zu sein und der Herrenrasse anzugehören. Seit kurzer Zeit hielt er sich eine nationalsozialistische Wochenzeitschrift, und aus dieser schöpfte er seine Philosophie. Er las nicht leicht und flüssig, er folgte den Zeilen mit dem breiten schwarzen Zeigefinger und buchstabierte halblaut, während er von jüdischen Untermenschen – wie zum Beispiel Albert Einstein – las, deren Ausrottung notwendig war, wenn die menschliche Rasse nicht verunreinigt werden sollte.
Marius kannte die Juden, und er wußte, wie sie waren. In seiner Kindheit hatte sich in der Gegend von Zeit zu Zeit ein alter Jude gezeigt, der lange, zerlumpte Kleider trug, einen grauen Bart hatte und schwarze, funkelnde Augen. Er wanderte von Haus zu Haus und verkaufte Seife. Seine Ware führte er in einem hohen, rostigen Kinderwagen mit sich, und wenn man nichts kaufen wollte oder seine Seife gar kritisierte, geriet er in furchtbaren Zorn und schimpfte laut und grob. Dieser hitzige alte Mann war der Schrecken seiner Kindheit gewesen, und seine Mutter drohte damit, daß der Jude ihn holen würde, wenn er nicht artig sei. So waren die Juden.
Die gemischten Bonbons waren nicht mehr so wie in Marius’ Kindheit, als er vom Kaufmann jeden Sonnabend eine Tüte voll gratis bekam. Damals waren die Bonbons angenehmer im Geschmack gewesen und schöner in Form und Farbe. Es ging eben abwärts, mit den Bonbons und mit allem anderen. Auf allen Gebieten machten sich Verfall und Degeneration bemerkbar.
„Daran ist bestimmt das ,System‘ schuld“, sagt der Kommis. „Du wirst sehen, Marius, es sind die Sozialisten und Juden, die deine Bonbons verhunzen!“ Und die Leute im Laden amüsierten sich über Marius.
Aber Marius war nicht mehr der Mann, über den man sich amüsieren durfte. Schon bald kam die Zeit, wo man mit Höschen-Marius und seinesgleichen rechnen mußte. Er lutschte Bonbons und hatte Rotz im Schnurrbart. Doch er ging selbstbewußt und würdig die weiße Dorfstraße entlang. Er stampfte in neuen Schaftstiefeln dahin und stieß seinen Stock grimmig in den Schnee. Wartet nur, die Zeit kommt, da die Köpfe rollen werden!
Noch im März staken die Fähren im Eis fest. Seeland war von Europa abgeschnitten. Und trotz Osterferien und Verkehrsschwierigkeiten trat das Folketing zusammen und beschloß, das Gesetz zu verlängern, das eine zentrale Warmwasserversorgung und Zimmertemperaturen von mehr als achtzehn Grad Celsius verbot.
Draußen auf den eisfreien Meeren wurden die Schiffe des Landes von den Deutschen versenkt. Es war schon angenehmer, zu Hause zu sitzen, mochte das Eis auch Schwierigkeiten bereiten und das Heizmaterial knapp sein. Und doch war die Kälte für viele sehr schlimm, auch wenn die Ärzte im Rundfunk behaupteten, sie sei gesund.
Pastor Nørregaard-Olsen sprach in seinen Sonntagspredigten über die alte, erprobte Wahrheit, daß dem Winter der Frühling folge. So sei es immer gewesen, und so werde es immer sein. Gott halte sein Wort. Er mogele nicht. Dem Winter folge der Frühling.
Aber der Schnee stob über das Land, mächtige Schneewehen versperrten die Straßen. Der gelbe Linienbus fuhr zwischen Wänden von Schnee dahin. Die kleinen Gartenzäune und die mißhandelte Ligusterhecke der alten Emma waren begraben. Eigentlich müßte man in den Gärten schon säen und Zwiebeln stecken. Und die Bauern müßten mit der Frühjahrsbestellung anfangen. Alles verspätete sich in diesem Jahr. Man konnte bereits jetzt beginnen, über die Ernte zu jammern. Und das viele Eis, das das Land einschloß und es abkühlte! Die alte Emma war in ihrem Leben noch nie von Seeland heruntergekommen; doch nun fühlte sie sich plötzlich unsicher, wenn sie daran dachte, daß die Fähren festsaßen.
Der gelbe Linienbus rollte zwischen weißen Wällen vorsichtig auf der glatten Straße dahin. Die Fahrgäste unterhielten sich über das Wetter und über die Mühen der Zeit. Sie kannten sich alle. Doch diesmal fuhr da ein Mann mit, den man seit langer Zeit in der Gegend nicht mehr gesehen hatte. Man wußte nicht sofort, wer es war, aber einer nach dem anderen erkannte ihn wieder, und die Leute guckten und flüsterten. Olsen, der als Diener auf Frydenholm gedient und den man des Mordes an Skjern-Svendsen verdächtigt hatte, saß in dem gelben Bus. Er war dicker geworden. Und er ging besser gekleidet. Er trug einen neuen Mantel mit Pelzkragen und eine Astrachanmütze. Ob er wieder nach Frydenholm kam? Ob er den neuen Grafen kannte?
Das Land sah noch im März wie auf einer Weihnachtskarte aus, überall Schnee und an den Häusern lange Eiszapfen. Aber es war ein anderer Himmel als im Winter, das Licht war anders. Die Stare hätten längst kommen müssen. Die Lerchen müßten schon singen. Und in den Gärten müßten die Krokusse blühen und an den Wegböschungen der Huflattich. Statt dessen gab es eingefrorene Wasserleitungen und Verkehrsschwierigkeiten. Man hatte noch nicht eine Kartoffel legen können, und die Saat erfror in den Mieten. Nur die Katzen fühlten den Frühling und schrien vor Geilheit bei fünfzehn Grad Kälte.
Der Linienbus mußte ganz dicht an den Schneewall heranfahren, um ein anderes Auto vorbeizulassen. „Das war sicher der Doktor“, meinte jemand im Bus. Ja, Krankheit gab es genug, obwohl das Radio sagte, es sei gesund, zu frieren. Der Doktor war ständig unterwegs. Auch er trug jetzt eine Pelzmütze. Er hielt vor den kleinen Häusern an, ging hinein und rieb sich die Hände, bevor er den Patienten berührte. „Na, wie geht es uns denn heute so?“
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