Die alte Emma wußte nicht, wie es uns geht. Sie konnte nur für sich allein antworten. Ihr ging es ganz und gar nicht gut. Die verteufelte Gicht wurde immer schlimmer. Ebenso die Ischias. Das zog und zerrte im ganzen Bein, bis hinunter in den Fuß, es war, als sei der große Hauptnerv geschwollen.
„Das ist doch Unsinn“, sagte der Doktor. „Es gibt keinen ,großen Hauptnerv‘. Das ist nichts als Aberglaube.“
„So“, brummte Emma. „So. Man hat keinen Hauptnerv mehr? Dann ist es wohl auch Aberglaube, daß es weh tut?“ Sie blickte den Doktor zornig an, beleidigt, daß man ihr nicht ihren großen Hauptnerv gönnte. Aber Schmerzen hatte sie jedenfalls, ganz gleich, was die Wissenschaft dazu meinte.
„Sie brauchen Wärme“, sagte Doktor Damsø. Emma fauchte: „Wärme! Mit dem Torf, den man heutzutage bekommt!“
„Wissen Sie, Emma, Sie könnten es im Altersheim doch viel besser haben“, sagte der Doktor. „Es ist warm und gemütlich dort. Und Sie hätten auch Gesellschaft. Dort sind noch andere Damen. Und man würde dort auf Sie aufpassen.“
„Ich kann selbst auf mich aufpassen!“
„Sie dürfen das nicht als Armenfürsorge betrachten“, redete der Doktor ihr zu. „Das ist nicht so etwas wie in alten Zeiten. Sie haben einfach ein Recht darauf, ein Recht wie wir alle. Sie haben doch selbst dazu beigetragen, das Altersheim zu bezahlen. Es ist unser Recht, dort zu wohnen, wenn wir alt sind.“
„Geht der Herr Doktor auch ins Altersheim?“ fragte Emma.
„Ich? Nein, ich weiß nicht. Ich bin ja noch nicht so alt. Noch nicht. Man soll ja nicht über das Alter der Damen sprechen, das ist mir bekannt, aber Sie sind doch bestimmt siebzig, wenn Sie auch jünger aussehen.“
„Ich bin achtundsiebzig.“
„Ja, dann haben Sie es aber wahrhaftig verdient, gemütlich und behaglich in unserem Altersheim zu wohnen“, sagte der Doktor.
„Ich habe mein eigenes Haus.“
„Aber das Altersheim ist ja auf eine Art auch Ihr Haus. Es ist unser aller Haus.“
„Und ich habe meinen Garten.“
„Zum Altersheim gehört ein wirklich schöner Garten.“
„Ich habe meine Sachen hier”, sagte Emma. „Ich will meine Sachen behalten.“
„Im Altersheim gibt es doch auch Möbel. Dort sind sehr schöne Möbel. Ein Architekt hat sie entworfen. Sie würden sich dort bestimmt wohl fühlen.“
„Ich will meine eigenen Möbel behalten“, beharrte Emma.
Emma besaß nicht gerade prachtvolle Sachen. Sie waren nichts wert. Da war eine wurmstichige Kommode mit Fotografien, einer Muschel und einem gehäkelten Deckchen darauf. Dann gab es noch einen schiefen Kleiderschrank, eine vom Schwamm befallene Waschtoilette, einen Tisch mit Fransendecke und ein paar wacklige Stühle. Die Katze lag auf dem besten. Ein wenig Gerümpel stand auf dem Boden, eine Truhe und ein altes Spinnrad. Es war viele Jahre her, daß jemand darauf gesponnen hatte. Emma würde kein elegantes Mobiliar hinterlassen, wenn sie ins Altersheim zog, wo es gute, geschmackvolle Sofas und Ledersessel gab und wo es hygienisch duftete.
Der Doktor sah sich in Emmas Stube um. Es roch nach Erde und Schimmel, nach Katze und alter Frau. Über der Kommode hing ein verblichener Öldruck, der den russischen Zaren Alexander und seine dänische Gemahlin darstellte. Er war so verblichen, daß nur noch die gelben und blauen Farben übriggeblieben waren. Weshalb mochte der hier hängen? Die Wand gegenüber schmückte ein eingerahmtes Blatt zum Gedenken an Frederik den Sechsten. „In seiner Güte löste er die Fessel des Bauern, und die Klage der Neger rührte ihn“, war darauf zu lesen. Rundherum waren vergoldete Weihnachtskarten angeheftet, die vor Fliegendreck starrten. Die Bibel lag aufgeschlagen auf der Tischdecke.
In den beiden Fenstern standen Blumentöpfe mit englischen Pelargonien, zwischen ihnen eine Porzellankatze. Die richtige Katze lag breit und riesengroß auf einem Kissen auf dem besten Stuhl und sah den Doktor aus schmalen Augen mißtrauisch an. „Ja, das ist meine einzige, kleine Kreatur“, sagte Emma. „Ich will meinen Manse behalten. Er ist genauso klug wie ein Mensch.“
„So, er heißt Manse? Wie groß er ist!“
„Ich will ihn nicht verlieren!“ sagte Emma. „Nein, ich will nicht.“
„Ist ja gut“, beruhigte sie der Doktor. „Uberlegen Sie es sich! Wie steht es mit den Pillen? Haben Sie noch welche? Na, ich verschreibe Ihnen neue. Sie sollen natürlich nicht heute oder morgen umziehen, ich rate Ihnen nur, es sich zu überlegen. Es wäre doch das beste für Sie.“
„Ich werde nirgendswo hinziehen!“ Emma war voller Starrsinn und Trotz und sah den Doktor, der doch nur ihr Bestes wollte, feindselig an. O dieses Mißtrauen der kleinen Leute! Diese eigensinnige Ablehnung von Fortschritt und Verbesserung! Man will diesen Menschen helfen, aber sie sträuben sich dagegen!
„Ja, ja. Das bestimmen nur Sie selbst“, sagte der Doktor geduldig. „Wir sind freie Menschen hierzulande.“
Dann setzte der Doktor seine Mütze auf, zog die Fausthandschuhe an und fuhr weiter zu einem Hof, wo eine Witwe wohnte, die an einem Ekzem litt.
Es war ein großer, schöner Hof. Die Witwe lebte mit ihrem vierzigjährigen Sohn zusammen. Er wollte sich schon seit langem verheiraten, aber die Mutter erlaubte es nicht. Sie wollte ihn nicht missen. Er mußte ihr Ekzem pflegen. Er schlief neben ihr im Doppelbett, und im Laufe der Nacht mußte er ihr einigemal den Rücken mit einer grauenhaften schwarzen Salbe einreiben. Sie konnte das nicht allein. Deshalb durfte der Sohn nicht heiraten.
Der Hof war gepflegt, die beiden waren wohlhabende Leute, die ihr Geld nicht verbrauchten, sondern sparten. Aber niemand würde sie beerben und kein Nachkomme Nutzen von ihrer Sparsamkeit haben.
„Sehen Sie“, sagte die Witwe. „Sehen Sie nur, wie ich mich schäle! Jeden Morgen kann ich eine ganze Müllschaufel voll Hautschuppen aus dem Bett heraustragen.“
Das Ekzem war wie eine Riesenschlange, die sich jede Nacht häutete. Und das war Verschwendung bei dieser geizigen Frau. Sie düngte ihre Topfpflanzen mit den Hautschuppen, damit Gottes Gaben nicht verlorengingen, und die Pflanzen gediehen davon. Der Doktor verschrieb ihr wieder schwarze Salbe, spritzte ihr B-Vitamin in den Schenkel und ließ sie weiße Tabletten mit Arsen essen, die sie fett machten. Und er dachte daran, daß es eine Tat der Barmherzigkeit wäre gegenüber dem vierzigjährigen Sohn, der so gern heiraten wollte, wenn er dieser Mutter eine größere Portion Arsen verschriebe. Doktor Damsø war ein hilfsbereiter und vorurteilsfreier Mann, aber er wollte kein Mörder sein. Er seufzte und schrieb das Rezept. Und der Sohn der Witwe konnte nicht heiraten.
Der Doktor fuhr weiter durch das Winterwetter. Die ältere von Jens Olsens dicken Töchtern hatte einen Bandwurm. Sie liebte Fleisch über alle Maßen, und wenn sie ein Schwein geschlachtet hatten, konnte sie sich nicht beherrschen und warten, bis es zubereitet auf den Tisch kam: Sie biß in das warme, rohe Fleisch des eben geschlachteten Tieres. Und nun fanden sich weiße Bandwurmglieder im Stuhl, die dem Doktor präsentiert wurden; der Wurm fraß ihr das Essen weg, so daß sie ständig unter Hunger litt.
Ja, da mußte streng gefastet werden, bis der Bandwurm ausgehungert war. Und dann sollte sie Salz und Pfeffer und Essig und scharfe Sachen zu sich nehmen, damit das Tier beleidigt wurde und Fräulein Olsens Darmwand losließ. Und dann sollte sie Rizinusöl trinken, damit das Ungeheuer ausgetrieben würde. Aber der Doktor war nicht sicher, ob das dicke, hungrige Mädchen charakterfest genug war, diese harte Kur zu Hause durchzuführen. „Es wird wohl besser sein, wenn ich eine Einweisung für das Krankenhaus schreibe. Sie können ruhig mit dem Bus dorthin fahren. Wegen dieses Bandwurms brauchen wir keinen Krankenwagen zu bemühen, wir sollen ja jetzt Benzin sparen. Wie ist bitte Ihre Krankenkassennummer?“
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