Da ist er also jetzt angekommen. Steht vor dem Spiegel, kämmt sorgfältig das Haar – die ersten grauen Strähnen sehen ganz spannend aus. Schönfelder begutachtet, was er sieht. Der Oberkörper ist austrainiert. Breite Brust, flacher Bauch. Kein Gramm Fett. Die Beine sind so gut in Form wie wohl noch nie in seinem Leben. Vielleicht hatte er mal eine schnellkräftigere Muskulatur, aber da war er noch ein junger Spund gewesen.
Jetzt hat er sich – schließlich ist er schon 39 und muss das Alter mit Sonderschichten und Extraübungen kompensieren – eigens auf die Wettbewerbe in Kanada vorbereitet. Hat den Körper noch einmal in Höchstform gebracht. So etwas ist immer schwer. Das schaffen nur Menschen mit einem unbeugbaren Willen.
Gerd Schönfelder putzt die Zähne. Er denkt nicht groß darüber nach, was das für ein Wunder ist. Die Tube auf der Bürste ausdrücken. Den Stiel mit dem verpflanzten Zeh und dem Daumen greifen und dann übers Gebiss führen. Schönfelder hat sehr ansehnliche Zähne, das weiß er – und er pflegt sie gründlich.
Die Hand mit der Zahnbürste zwischen der Zehe und dem Daumen fährt von links nach rechts, von oben nach unten.
Zähneputzen – es ist herrlich, das zu können.
Dann cremt er mit seinem linken Handstummel das Gesicht ein. Es würde ein sonniger Tag werden, da nimmt er einen hohen Lichtschutzfaktor. Er schraubt die Tube zu – Tube zuschrauben, was für eine wunderbare Fertigkeit.
Ein kurzer Blick zur rechten Schulter. Die Narbe zieht sich über die Flanke, die Haut sieht gesund aus, die Musculi pectorales, die Brustmuskeln, bersten fast vor Kraft.
Fehlt halt der Arm.
Aber den hat Gerd seit über 20 Jahren nicht mehr.
Es kann einen Menschen völlig aus der Bahn werfen, wenn er einen Arm verliert. Er funktioniert nicht mehr, er »begreift« die Welt nicht mehr. Der Mensch ist aus der Balance, er wird nie mehr der »Alte« sein. Ein »Schwerbehinderter« ist er. Einer, dem man helfen muss.
Gerd Schönfelder aber hat sich einen neuen Weg gebahnt. Den Arm hat er mit 19 verloren. 20 Jahre später ist er einer der erfolgreichsten Sportler des Landes.
Nun noch ein Sieg in der Abfahrt – und die Karriere wäre perfekt.
Er muss lange warten auf seinen Start. Immer wieder wird er verschoben, eine japanische Fahrerin stürzt schwer, es kommt zu großen Verzögerungen.
Gegen zwei Uhr nachmittags lässt sich Schönfelder von der Gondel zum Start bringen. Er wärmt sich auf, steigt in die Skier, von denen Hasch die letzten Flocken gebürstet hat. Schnallt die Skischuhe so eng, dass sie schmerzen. »Auf geht’s, Gerd!«, brüllt Hasch.
Er schiebt die Skier ins Starthäuschen. Bringt den Körper an der Zeitschranke in Jagdstellung. Fünf, vier, drei, zwei, eins.
Gerd Schönfelder stampft mit einem Ski in den Schnee, wirft sich nach vorn, pflügt einen Schlittschuhschritt in die Piste, noch einen und noch einen.
Nun ist er so schnell, dass Schlittschuhschritte nicht mehr helfen. Der Fahrer duckt sich in die Hocke, legt den linken Arm an die Brust und wird zum Geschoss.
Die 80 wichtigsten Sekunden seines Sportlerlebens haben begonnen.
Nach einer Minute und 14 Sekunden schießt Gerd Schönfelder, Startnummer 81, über die letzte nennenswerte Kante der Abfahrt. Geschwindigkeit: etwas mehr als 125 Stundenkilometer. Der Fahrer lässt vielleicht eineinhalb Armlängen Abstand zwischen sich und dem roten Tor links von ihm. Er lehnt sich leicht in die Kurve, der linke Arm ist vor der Brust angewinkelt, Schönfelder ist aerodynamisch in beinahe optimaler Position.
Kurz nach der Kuppe heben die Skier ab. Von links kommt die Sonne, und der Schatten rechts wird größer und gestreckter. Schönfelder wird aus der Abfahrtshocke gerissen. Sein Körper wird nach oben geschleudert, dagegen kann sich kein Mensch der Welt wehren. Schönfelder muss die Knie durchstrecken, er verliert die Richtung und wird während der Luftfahrt nach rechts abgetrieben. Immense Kräfte zerren an dem Fahrer. Er hat keine perfekte Kontrolle mehr über die Skier – die Schaufeln zeigen leicht nach innen, so darf er auf keinen Fall landen. Der Oberkörper ist leicht verdreht. Gerd Schönfelder steuert mit dem rudernden linken Arm dagegen an.
Der Arm wird hoch gerissen. Die linke Skispitze weist steil nach oben, die rechte senkt sich zur Piste hinunter. Der Skifahrer fliegt nun seit 20 Metern und hat eine Höhe von zwei Metern über Grund. Das sieht sehr gefährlich aus. Das kann böse enden.
Geschwindigkeit: immer noch gute 110 Stundenkilometer. Schönfelder streckt sich, macht sich ganz lang. Der linke Arm zeigt waagrecht zur Sonne hin. Die Skier bekommt der Fahrer gerade unter Kontrolle, schon richtet er die Enden nach unten für die Landung aus.
Schönfelders Schatten: ein krummer, langer, auf der Piste rasender Strich.
Nach 25 Metern landet er. Er ist nun 1:15,8 Minuten unterwegs.
In nicht einmal einer Zehntelsekunde duckt Gerd Schönfelder sich wieder in die Abfahrtshocke, zieht den linken Arm wieder vor die Brust, nimmt den Kopf nach unten und setzt einen Rechtsschwung an.
Nein, das ist kein Schwung, das ist eine Kurve, die der Außenski anfangs mit Gewalt in die Eispiste fräst. Dann stimmt die Richtung, und Gerd Schönfelder lässt die Skier frei. Das kann er so unnachahmlich: Bei Tempo 120 gleiten, und es staubt kein Pülverchen.
Er gleitet durch die nächste Rechtskurve, es ist die letzte Richtungsänderung dieser Abfahrt. Gerd Schönfelder ist jetzt wieder dieses Kraftpaket, das wie fürs Lehrbuch gemalt ist. Beine breit auseinander, in leichter O-Form. Das Becken lastet mit dem Körpergewicht knapp hinter der Bindung. Der Kopf steckt zwischen den Schultern, vom Helm blickt ein schnaubender Stier auf die Piste, der linke Arm rührt sich nicht von der Brust weg.
1:20,7 Minuten. Schönfelder überquert die rote Ziellinie. Er richtet sich auf und sucht mit dem Blick die Anzeigetafel. Erster. Knappe zwei Sekunden schneller als der Schweizer Brügger.
Bei Tempo 70 schnallt Gerd, dass er wieder Gold gewonnen hat. Nach links bremst er ab. Elegant sieht das aus, sehr gekonnt die Schräglage. Gerd Schönfelder fährt den Arm aus. Er kommt zum Stehen. Ballt die Faust. Schreit »Ja!«.
Dann fällt er um. Nach rechts. Dorthin, wo kein Arm ist. Er liegt rücklings im Schnee des Zielraums, blickt in den Himmel und hat die Faust noch immer geballt.
Was für ein Kraftmensch!
Was für eine Freude!
Was für ein wunderbares Bild!
SCHICKSAL
11. September 1989. Hersbruck. 16.41 Uhr.
Das ist der Moment, auf den alles zugelaufen ist.
Gerd Schönfelder ist auf einer neuen Baustelle. Da er fast fertig mit seiner Ausbildung ist, wird er schon wie eine reguläre Arbeitskraft als Elektroniker eingesetzt. Er wird auf Montage geschickt, muss sich auf wechselnde Arbeitsplätze und immer neue Anforderungen einstellen.
Berufsleben eben.
Am Freitag hat ihm der Arbeitgeber noch gesagt, vielleicht müsse er am Montag nicht nach Nürnberg kommen. Vielleicht Marktredwitz. Oder eine andere Baustelle in der Region.
»Schau’n mer mal, habe ich mir gesagt. Auf jeden Fall klingt das mal nicht schlecht, dass ich nicht in die Stadt muss. Mein Chef hat gemeint, er meldet sich bei mir. Okay, habe ich gesagt, alles gut, das Wochenende kann kommen.
Samstag habe ich nichts gehört, am Sonntag habe ich versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Hat nicht geklappt. Also ist mir nichts anderes übriggeblieben, als am Montag nach Nürnberg zu fahren.«
Beim Frühstück sagt er zur Mutter: »Du, ich fahr heut mit dem Motorrad.« Dann ist wenigstens der Weg zur Arbeit nicht so fad. Gerd liebt es, mit seiner 600er XT unterwegs zu sein. Ist doch was ganz anderes als das Rumsitzen in einem Zug, in dem lauter Menschen in die Woche starten.
»Nein«, meint die Mutter. »Das machst nicht. Nimm lieber den Zug, das ist gescheiter. Ist nicht so gefährlich.«
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