Als Jugendlicher hatte er die Wochenenden durchgezecht, später mehrere Tage am Stück, in immer kürzer werdenden Abständen.
Der Suff hatte ihm einige kleine Vorstrafen und zuletzt sogar eine längere Gefängnishaft eingebracht. Er hatte Bruno auf der sozialen Leiter langsam, aber beharrlich Stufe für Stufe absteigen lassen.
Zuerst verlor er die Arbeit. Anfangs, als er abends nur gelegentlich in Kneipen versackte und morgens mit schwerem Kopf und lahmen Gliedern nicht aus dem Bett kam, hatte ihn sein Arzt krankgeschrieben. Befund: Magenverstimmung oder Migräne. Später fehlte er unentschuldigt und wurde entlassen. Dann verlor Bruno seine Wohnung – binnen weniger Monate war der Mietrückstand zu einer unbezahlbaren Summe geworden. Die Möbel wurden gepfändet, Bruno musste gehen. Irgendwann zerstritt er sich mit den letzten Freunden, die ihm Unterschlupf gewährt hatten. Schließlich fand er sich auf der sprichwörtlichen Parkbank wieder.
Die Phasen, in denen Bruno nüchtern anzutreffen war, wurden selten. Äußerst selten. Was früher noch Eskapaden waren, war nun Dauerzustand.
Er tat sich mit anderen wohnungslosen Trinkern zusammen, gemeinsam tranken sie von morgens bis abends. In den billigen Rotwein mischten sie Hefe und Zucker und Schlaftabletten – vergoren eine explosive Mischung. Der schwere tägliche Trunk tat seine verheerende Wirkung. Bruno bot ein jämmerliches Bild: Innerlich war er, im wahrsten Sinne des Wortes, zu. Er war unansprechbar, faselte wirres Zeug. Äußerlich verwahrloste er, wusch sich nicht, trug wochenlang die gleiche Kleidung. Bruno war unter die Räder der Trunksucht geraten.
Als ich ihn kennenlernte, lag diese unrühmliche Zeit bereits einige Jahre zurück. Er selbst hatte mir davon erzählt, auch von der Veränderung. Es klang wie ein Märchen. Oder ein Wunder.
Bruno hatte, kurz nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde, einen lichten Moment gehabt und machte einen Alkoholentzug. Nicht seinen ersten, aber es wurde der letzte. Während der Kur fand er Kontakt zu einer betreuten Selbsthilfegruppe der christlichen Suchthilfeorganisation Blaues Kreuz. Er mochte die Leute dort und ging regelmäßig zur Gruppe. Das half ihm. Motiviert von den Gruppenstunden und Einzelgesprächen und auch von den Gebeten mit den Mitarbeitern, hatte er das Trinken lassen können.
Nun ging es Bruno so gut wie lange nicht. Zusammen mit einem Freund bewohnte er eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Er bezog eine niedrige, aber ausreichende Rente. Und er war Mitglied einer kleinen christlichen Gemeinde geworden. Ein Bekannter aus der Gruppe hatte ihn dorthin mitgenommen. Es ging recht familiär zu, jeder kannte jeden, und Bruno hatte sich schnell heimisch gefühlt. Besonders die älteren Damen, die sich in rührender Herzlichkeit um ihn kümmerten, trugen ihren Teil dazu bei.
Warum also fragte Bruno mich nach dem Bierpreis?
Gut, ich wusste, dass es immer wieder einmal Tage gab, an denen das alte Laster ihn packte und schüttelte und so lange nicht aus dem Würgegriff seiner teuflischen Klauen ließ, bis Bruno wieder zur Flasche gegriffen hatte. Aber diese Rückfälle waren selten. Außerdem waren sie plötzliche Attacken, die ihn nur dann überfielen, wenn er schutzlos in der Wüste seiner Einsamkeit steckenblieb – dann allerdings konnten sie mit Macht herangaloppieren. Tagsüber, wenn Bruno alleine und ohne Beschäftigung in seiner Wohnung saß. In Gesellschaft mit Freunden trank Bruno nicht.
Dass er jetzt ausgerechnet in die – alkoholfreie! – Atempause kam, um mich auf die Straße zu bitten und sich von mir den Bierpreis der Sun-Bar vorlesen zu lassen, das wollte nicht in meinen Kopf.
Wollte er mir eins auswischen? Vielleicht. Aber warum? In Windeseile gingen mir verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf. Wann hatte ich Bruno zuletzt getroffen? Konnte ich ihn dabei unbemerkt verletzt haben?
Bei Menschen mit solch einer Lebensgeschichte geschieht das nur allzu schnell. Manchmal bewerten sie kleinste Bemerkungen viel zu stark und reagieren dann übertrieben gekränkt. Wer einmal zu den Verachtetsten, zu den „Pennern“, zum „Abschaum der Gesellschaft“ gehörte, der vergisst das nicht so leicht. In seiner Seele bleibt er äußerst sensibel und verletzlich. Es ist, als ob eine innere Goldwaage alle Worte und Gesten und besonders die Zwischentöne eines Gegenübers genauestens abwöge und bereits beim geringsten Ungleichgewicht hochempfindlich reagierte. Diese besondere Empfindsamkeit übersieht man leicht.
Trotz angestrengten Überlegens fiel mir kein Fettnäpfchen ein, in das ich getreten sein könnte. Im Gegenteil. Unsere letzte Begegnung war eine ganz besondere gewesen ...
Wie gesagt, Brunos Leben war stabil geworden. Doch es gab einige – erstaunlich wenige – Nachwirkungen aus seiner Zeit „auf der Platte“. Platte, so nennen die Wohnungslosen ihre Schlafplätze. Platte „machen“ sie auf der Straße oder im Park oder unter der Brücke – wo immer einer ein geschütztes Plätzchen entdeckt, wenn es nur groß genug ist, dass er seinen Schlafsack entrollen und die obligatorische Plastiktüte, das tragbare Wohnzimmer, abstellen kann.
Sich selbst nennen sie Berber, nach jenem wandernden Nomadenvolk Nordafrikas, das noch bis vor wenigen Jahren in Ziegenfellzelten wohnte, ein karges Leben führte, Hauptnahrungsmittel: Datteln und Feigen, Käse von Ziegen- und Kamelmilch, und „nach der Sitte der Väter“ jahrhundertealte Bräuche pflegte. Wie die orientalischen Berber mit ihren Herden auf der Suche nach Wasser- und Weideplätzen, von Oase zu Oase durch die weiten Sanddünen der Sahara zogen, so durchstreifen die bundesdeutschen Berber heute die Beton- und Gefühlswüsten der Großstädte, auf der Suche nach Nahrung und Wohnung und Leben und – so kitschig es klingt – ein bisschen Liebe.
Eine der Nachwirkungen von Brunos Vergangenheit waren gelegentliche Rückfälle. Eine andere betraf seine Hygiene. Bruno duschte sich nicht und ging schon gar nicht in die Badewanne. So gut wie nie. Seine tägliche Körperpflege bestand aus nichts anderem als der schnellen Katzenwäsche der Kinderjahre: Hände meistens, Gesicht gelegentlich, Rest ... na ja. Dass es in der Wohnung weder Badewanne noch Dusche gab, sondern nur ein kleines Waschbecken von der Größe einer Nachttischschublade, war Bruno eine willkommene Ausrede.
Unter diesen Waschgewohnheiten litt seine Gesundheit. Er erkrankte immer häufiger an verschiedenen Infektionen. Da er von Ärzten nichts hielt – besser: weil er Angst vor ihnen hatte, was er freilich nie zugegeben hätte –, kurierte er seine Krankheiten mehr schlecht als recht zuhause aus. Ein hartnäckiger Reizhusten verließ den starken Raucher erst gar nicht mehr.
Vor einigen Wochen hatte sein Mitbewohner Brunos Elend nicht mehr länger mit ansehen können. Er wandte sich hilfesuchend an die Heilsarmee, wo er, wie Bruno auch, ein regelmäßiger Gast war. Ich war zufällig der erste, der ihm über den Weg lief, und den er über Brunos labilen Gesundheitszustand informierte. Prompt ließ ich mich dazu überreden, Bruno zu besuchen und zu einem Bad in unserer Badewanne zu bewegen. Nun war es an mir (und nicht mehr an seinem Mitbewohner, der klug genug war, einen anderen zu schicken ...), Bruno von den Vorzügen eines Vollbades zu überzeugen. Ein schwieriges Unterfangen, in das ich da eingewilligt hatte.
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