„Ich bog mich. Die betrunkenen Dirnen kreischten laut, die Gäste, meine armseligen Genossen, wieherten, und der Schenker hielt sich den Leib vor Lachen.
„Aber ich hielt stand.
„Die Nacht, die böse — böse Winternacht! Und der funkelnde, kalte, unbarmherzige, höhnische Sternenhimmel! Meine Herren! Sie können sich bei bestem Willen eine solche Nacht der Obdachlosigkeit nicht vorstellen. Die ärmste Maus hat ihren Schlupfwinkel, nur die gottähnliche Kreatur Mensch darf so umherwandern. Ich sage es nochmals, um in Ihren Augen für die mir angetane Schmach einigermassen gerechtfertigt dazustehen.
„Also ich hielt stand. Aber im Aufblitz meines Blickes mochte etwas gelegen sein, das Drohung war, das Vorsicht gebot. Und in diesem Sinne mochte es der Begleiter des schon bald rasend betrunkenen Kavaliers genommen haben, denn er hemmte die zum dritten Schlage erhobene Hand.
„Aber der Betrunkene machte sich los.
‚Was weisst du von einem solchen Schwein! Da schau her ... nochmals um hundert Kronen ...‘
„Und — er spuckte mir ins Gesicht.
„Das tat er. Und ich tat das andere.
„Wie er sich taumelnd umgedreht, ergriff ich eine auf dem Schankpult stehende Sodawasserflasche und zerschmetterte ihm den Schädel. Mag sein, dass es nicht ritterlich ist, einen Gegner von hinten zu töten. Aber war das ein Gegner? Einen wütenden Hund habe ich getötet ... weiter nichts.
„Ihr Urteil, meine Herren Geschwornen, mag es wie immer lauten, wird an meiner Befriedigung nichts ändern. Ich war diese Tat dem armen slowakischen Hundefänger schuldig.“
Nach kurzer Beratung sprachen die Geschwornen den Angeklagten von der Anklage des meuchlerischen Totschlages frei.
Eine alte Pfründnerin, die kleine, bucklige, zittrige Hafnerin, hatte ihren Riskonto verloren, auf dem ein Gewinst von vier Gulden, das heisst acht Kronen stand. Die alte Hafnerin rechnete konsequent nur nach Gulden und Kreuzern. Vom Eck der Gasse her, beim Kaufmann, musste der Verlust erfolgt sein. Dort hatte sie ihr Sacktuch aufgeknotet und zehn Heller aus ihrem Schatze entnommen. Ausser einigem Bargeld enthielt er auch den gewinstreichen Riskonto.
„Was suachen S’ denn, Muatterl?“ fragte ein Strassenkehrer die immer erregter auf- und abtrippelnde und suchend gebeugte Alte.
„Marrand Anna — vielleicht hab’n S’ ’hn g’seg’n. A Rischkonta war’s, a gelber.“
„Kunnt’ mi’ net erinnern, Muatterl. So a Papierl waht der Wind davon, und ma’ hat gar ka’ Idee, wohin? War was drauf?“
„A Amba war’s.“
„Ui jegerl! No, war’n a paar schöne Vierterln Wein g’wes’n.“
„Ja freili’, für Euchere Männergosch’n war’ alles nur auf an’ Wein. Helfen S’ mir liaba suach’n!“
„Was suacht denn die Frau?“ fragte der daherschlendernde Wachmann angesichts der aufs neue aufgeregt suchenden Pfründnerin den Strassenkehrer.
Der erklärte den Sachverhalt.
„War was drauf?“ forschte der Wachmann.
„No ... a Amba, sagt s’.“
„A Amba? Gabert grad a paar Vierterln Wein.“
Die alte Pfründnerin hatte das Wort erlauscht.
„An’ Wein? Sunst weiter nix? Ob ma’ von an’ Mannsbild was anders hörert als vom Saufen. Schauts liaber, vielleicht find’ts ’n aner.“ Und sie ging daran, ein altes, im Rinnstein liegendes Zeitungspapier, das der Strassenkehrer schon tagelang vergessen hatte, umzukehren.
„Was suacht denn dö Frau?“ fragte ein Kohlenträger, der mit seiner leeren Butte daherkam und sehr neugierig war.
„An’ Rischkonta.“
„War was drauf?“
„Mir scheint, a Amba oder Ambasolo,“ sagte der Strassenkehrer.
„War’ grad recht auf a Sprüngerl ins Wirtshaus. Gabert a paar schöne Vierterln Wein ...“
„Was suacht denn dö Frau?“
Die Frage war allgemein geworden. Denn der Kohlenträger hatte seine Butte niedergestellt und las schmutzige Papiere auf, unter die sich vielleicht der Gewinstzettel verirrt haben konnte. Auch der Strassenkehrer hatte sich der Aktion angeschlossen, indem er mit der Eisenspitze seines Besens desgleichen tat. Der Wachmann wollte nicht zurückbleiben und nahm das Schleppeisen seines Säbels zu Hilfe.
„Was wird denn g’suacht?“
„A Rischkonta soll valur’n ganga sein. Mit an’ Terna!“
„Fix Laudon no’mal, da kunnt’ ma’ amal scho’ urndli’ drahn. Da gangt scho’ was oba!“
„Was wird denn g’suacht? Was wird denn g’suacht?“
Binnen kurzem beteiligte sich mit Inbegriff einer zahlreichen Strassenjungenschaft jeder Vorbeigehende an der Entdeckung des kostbaren Stückchens Papier. Als dürfte dieses nicht ein solches, sondern eine schwere Münze gewesen sein.
Allgemein wurde der Meinung Ausdruck gegeben, dass man sich viel Wein und viele „Drahrer“ um das verlorene Geld kaufen könnte. Die alte Hafnerin als Verlustträgerin war ganz vergessen. Man suchte. Mit Leidenschaft. Aus Sport.
Endlich ein Aufschrei.
„Da is das Malefizviech. In Sack hab’ i’s g’habt, und i hab’ g’mant, i hätt’s eing’wickelt g’habt. Na, an den Schrocken wir’ i denken, und wann i hundert Jahr’ alt wir’!“
„Was war’s denn eigentli’?“
„Ah nix. Dö narrische Alte macht a Angeh’n weg’n an’ Rischkonta, auf dem a Dreckerl von an’ Amba war.“
Die Aufklärung des wahren Sachverhalts mochte der Ansammlung ein Ende.
Man ging erregt auseinander.
Nur der Wachmann, der Strassenkehrer und der Kohlenträger fanden Worte des Unmuts wegen der verschwendeten Zeit, die das Suchen erfordert hatte.
„Weg’n der verruckten Schacht’l ihr’n blöden Rischkonta versam’ i mein G’schäft,“ sagte der Kohlenträger.
„Gengan S’ ham!“ herrschte der Wachmann die alte Pfründnerin an. „An’ Auflauf ha’m S’ g’macht, dass dö ganze Gassen rebellisch is.“
Der Strassenkehrer begann unmutig brummend wieder sein nervenzerrüttendes Tagewerk. Man konnte nur vernehmen:
„Jetzt ... auf a paar Vierterln Wein hätt’s grad g’längt.“
Klein Karli der Hausmeisterin und die kleine Erna der Partei vom zweiten Stock im Hintertrakt hatten Streit bekommen. Karli, den seine vier Lebensjahre entschuldigen müssen, hatte in aller Fremdheit des Begriffs männlicher Ritterlichkeit der Erna eine „geschmiert“. Erna war um ein Jahr älter, aber sie schrie trotzdem gottsjämmerlich. In den Streit der Kinder mischten sich die Mütter (es klingt nicht so wunderlich), und es entspann sich, wie stets, ein lebhaftes Für und Wider.
„Dass du dich stets mit den Kindern abgeben musst, ich hatte es dir schon so oft verboten,“ tadelte Ernas Mutter ihr weinendes Töchterchen. Das Wort war aufgegriffen worden.
„Kindern? — Wer san denn dö Kinder? Sö bringen dös so aussa, wia: a verwahrloste Bagaschi. Natürli’, Beamtenkinder kennan net alle sein. Was si’ halt heit all’s Beamter schimpft. Hint’ nix, vurn nix, aber d’ Nasen hoch, und in der Aktentaschen schleppen s’ d’ Erdäpfeln und d’ Ruab’n ham. Aber natürli’ a Aktentaschen. Da hab’ i scho’ g’fressen, wan i an’ so an’ plederten Kerl, den ’s G’wand z’ weit und der Mag’n z’ eng is, mit aner Aktentaschen siech.“
„Auf Ihre Gemeinheiten gehe ich nicht ein. So ordinär kann sich nur der Pöbel benehmen,“ konnte Ernas Mutter nur mühsam erwidern.
„Na — nobel werd’n m’r aa no’ sein. Weil Sö glaub’n, als Beamtenfrau ... Bitt’ Ihna, dö zwa Zimmer und Vurzimmer, wo S’ eh dös ane Zimmer vermiet’ hab’n, damit Ihna der Zins nix kost’t, wer’ m’r no’ jeden Tag anbringa. Und dann nehman m’r uns anständige Arbeiter von der Staatsdruckerei oder von aner Zeitung. Dö Leut’ müass’n für eahnere paar Gulden aa a Arbat niederleg’n, net wia die Herrn ‚Beamten‘ in eahnere Kanzlei’n, dö scho’ frei hab’n, wo a Arbeiter erst wieder anständig zum arbeiten anfangen muass.“
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