„Techt viel?“
„Natürlich, recht viel. Und viele guate Sach’n.“
Die Augen des Horchenden erglänzten.
„Was denn alles Tut’s?“
„No, an’ Schinken, an’ Kas und Wuchteln und Kaffee und Dschokolad ...“
„Und Bacherei?“
„Viel Bacherei und Zuckerln ...“
„Und an’ Mog’ntudl aa? Und Twetgen und Äpfl’n und an’ Milireis? ...“
„All’s hat er kriagt, aa a guat’s Banfleisch mit Essigkren und a Schweinernes und Hendeln und ...“
„... an Dudlhupf! ...“
„Den hat er aa kriagt.“
„Und der arme Ties’,“ forschte der mitleidige Zuhörer, „hat der nits tiagt?“ Der Erzähler erlahmte in seiner Einbildungskraft. Aber da berührte ihn wieder das Märchen, dass er den Faden fand aus dem Irrgang, in den er nach Art von Stegreiferzählern geraten. Und nun stellte sich neben das Märchen die Phantasie und berührte den Mann. Und dann kam der Schlaf und berührte den Kleinen und später den Vater, und dann kam der Traum und liess beide ein seliges Märchen weiter erleben.
Und alle kamen allabendlich getreulich wieder, bis einst einer kam und das Recht an dem Kleinen forderte. Alle traten schweigend zurück — das Märchen hatte ein Ende.
Also erzählen Sie!“ sagte der Vorsitzende zu dem wegen meuchlerischen Totschlages Angeklagten. Dieser begann: „Ich habe meinen Verteidiger gebeten, mir selbst die Vertretung meiner Angelegenheit zu überlassen. Er möge es nicht als Misstrauen in seine Fähigkeiten auffassen. Aber wie der natürliche Aufschrei der Not fester ins Ohr dringt als der gekünstelte der Darstellung, so glaube ich, meine Herren Geschwornen, wird meine einfache Erzählung Sie mehr dem Motiv meiner Tat nähern, als es die mittelbare Darstellung des Herrn Verteidigers vermöchte.
„Der Tatverhalt ist folgender: Mich hat ein Mensch tötlich beleidigt, und ich schlug ihn hinterrücks nieder. Ich leugne nichts und werde mich bemühen, auch nichts zu beschönigen, soweit es die in mir empörte menschliche Natur zulässt. Verzeihen Sie, wenn ich mich meines Opfers nur insoweit erinnere, dass ich eine unnütze, gefährliche Bestie aus dem Wege geräumt habe.
„Ich bin das, was man einen ‚gebildeten Proleten‘ nennt. Ein Mann mit aufgestapeltem Wissen, fähig zu hohen Berufen, aber unfähig, sein Brot durch Lastentragen zu verdienen. Meine Hände vertragen keine Schwielen, und mein Hirn — leider Gott! — es war weniger zu gebrauchen als meine Hände. Allen fehlte die rauhe Rinde der Erwerbsfähigkeit.
„Ich mute den Herren des hohen Gerichtshofes nicht einmal die Vorstellung zu, dass sie es probieren möchten, tagelang mit ungesättigtem Magen herumzulaufen, nächtelang im Freien zu schlafen, solange es die milde Natur gestattet; denn das, was Obdachlosen oft als Obdach zugemutet wird, konnte ich nicht ertragen. Ein Deklassierter ist eben anspruchsvoll, zu seinem Unheil.
„Bisher jedoch war auch mein Magen ebenso anspruchsvoll wie der Ihre — das heisst, ich konnte gewisse Fleischgattungen nicht ohne Widerwillen, ja Abscheu auch nur nennen hören. Aber jetzt waren mir Stücke aus einer Pferdefleischauskocherei ein Leckerbissen geworden. Begreifen Sie doch! ... Ein Feiertagsbissen. Nun etwas weiter ... Wie ich zu Hundefleisch kam ... Eines Tages irrte ich ausserhalb der Stadt durch die Felder. Wie gern durchwanderte ich einst diese. Wo ich als Kind Gott den allmächtigen Herrn gelobt, der Blumen und Falter gerade zu meinem Vergnügen geschaffen hatte, sank ich hin, verlassener als die hungrigste Bestie.
„Der Hunger des ‚verschämten Armen‘ hatte mich ohnmächtig, willenlos, feig, verzweifelt gemacht.
„Da, am Rande des Feldes, sitzt auf einem Stein ein Mensch und kaut an einem Stück Fleisch. Ja: Fleisch, sage ich Ihnen, den Begriff werden Sie nie ermessen. Ich könnte vielleicht sagen, das Wasser rann mir im Munde zusammen — doch hat die Sprache keinen Ausdruck für die Empfindung meines damaligen tierischen Hungers.
„Mein Anblick muss erbarmungswürdig gewesen sein. Doch — nicht das! Meine Augen müssen gesprochen haben, mit der schreienden Sprache die die Natur den leidenden Kreaturen als leider nur immer zu stumpfe Waffe mitgegeben hat.
„Ob Tier — ob Mensch! Mich haben solche Blicke stets gerührt ... Doch ich verirre mich nun. Ich sage, mein Anblick oder die Sprache meiner Augen müssen es gewesen sein, die den armen, am Wege lungernden Slowaken veranlassten, mir den widerlichen Brocken anzubieten.
„Ich wusste noch nicht, was ich ass.
„Als ich gesättigt war und mir dessen bewusst wurde, den treuesten, dankbarsten Freund unseres Geschlechtes gefressen zu haben ... Worte sagen nichts — Tränen alles. Der arme, landstreicherische Slowak ... wie gütig war er und doch wie grausam, als er grinsend sagte: ‚Hund is gut zum Fressen, sehr gut.‘ Ich war zu gesättigt und zu müde von der Sättigung, um Abscheu empfinden zu können. Und so dankbar war ich. Ich stand neben dem Menschen, der mehr Tier war als der Hund, der uns zum Frasse gedient. Aber war ich jetzt erhaben über diesen armen, unwissenden Mitbruder? Wodurch denn? Dass ich mehr gelernt hatte, mehr verstand von Dingen, die mir nichts nützen konnten, um den Hunger zu stillen?
„Gütig, wie die meisten selbst Darbenden sind, reichte mir der brave Slowak noch seine Schnapsflasche (wohl sein kostbarster Besitz), und ich trank — während mir unaufhaltsam Tränen über die Wangen rollten, sich an der Flasche brachen und sie mit dem köstlichsten Nass in Berührung brachten, das je die Fläche dieses Glases benetzte. Dann griff der arme Kerl in seine Tasche, wühlte in ihr herum und brachte endlich — einen Kreuzer zum Vorschein, den er mir treuherzig reichte. Lachen Sie, meine Herren Geschwornen! Es gibt noch Leute, die ihr Letztes teilen oder verschenken.
„Wahrhaftig, dem Andenken dieses Parias war ich es schuldig, die menschliche Gesellschaft von einer Unzier zu reinigen; jener Edle wäre noch heute beschmutzt, lebte die dahingestreckte Bestie noch.
„Einen Kreuzer! ... Merken Sie den Betrag! Denn nun komme ich zur Sache, zur Tat, die mich vor diese Schranken gebracht hat. Zur Tat, die ich nicht bereue und niemals bereuen werde im Erinnern an den mildtätigen slowakischen Landstreicher, der Hunde fing, um sie zu fressen.
„Vielleicht haben die sogenannten Wilden recht, die meinen, alle Eigenschaften des getöteten Geschöpfes gingen auf seinen Verzehrer über ... ich hatte zum mindesten die Dankbarkeit des Hundes in meine Seele — gefressen.
„Wie ich die nächste Nacht und den folgenden Tag verlebte? Meiner Treu ... ich weiss es heute selbst nimmer. Ich schlief im Gehen, im Stehen, beim Sprechen, ich war ein Automat ... Ich habe selbst nicht mehr so viel Bewusstsein, dass ich mich elend, verzweifelt gefühlt hätte. Nur einer Empfindung bin ich mir bewusst: wenn ich Hunden begegnete, war ich tief ... tief traurig. Wie wenn ich im Jenseits mit unauslöschlicher Trauer ein nie zu Verzeihendes, einen Vatermord oder was Ähnliches beklagt hätte. Ich weiss auch nimmer, wer der unselige Wohltäter war, dem ich zehn weitere Kreuzer verdankte. Jedenfalls auch einer der Kategorie, die die Hälfte von dem verschenkt, was sie besitzt.
„Es war nach einer bösen, kalten Nacht. Ich verschmähte bis dahin, mich einem Asyl anzuvertrauen; ich Narr vermeinte noch immer, meinem ‚Menschen‘ damit etwas zu vergeben. Statt mich in die Reihen meiner Brüder zu flüchten, zog ich es vor, wie ein aus der Herde gestossenes Tier in der Einsamkeit zu irren.
„Ich jagte durch die Strassen wie gehetzt oder wankte wie ein Betrunkener. Ich rannte, statt zu schreiten, nur um mich warm und wach zu halten und böse Gedanken von mir zu bannen.
„Elf Kreuzer! Ach, was wissen Sie von solchem Reichtum! Er machte mir die Nacht erträglich, verstehen Sie? Der Gedanke daran, er rettete mir damals das Leben und brachte mich am Ende hieher, um Rechenschaft abzulegen wegen der ausgelöschten Existenz einer unnützen Kreatur.
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