»Ich? Ach so«, sagte Johannes und fasste sich an die Stirn.
»Musst du nicht heute zum Arzt?« Sie strich sich das glänzende braune Haar hinter ein Ohr.
Johannes zögerte.
»Oder gehst du doch nicht zum Arzt? Dann hätte ich jedenfalls heute nicht zur Eule gehen müssen. Das war wirklich gemein.«
»Aber ich muss zum Arzt!«, erklärte Johannes schnell. »Ich bin auf dem Weg dorthin. Ich muss den Bus nehmen ... den von der Haltestelle da an der Ecke!«
Jetzt, wo er erst einmal angefangen hatte, konnte er gar nicht mehr aufhören. Er fügte hinzu: »Vielleicht muss ich sogar ins Krankenhaus.«
Camilla sah ihn interessiert an.
»Ins Krankenhaus?«
Jetzt hatte er sich verrannt.
»Mmh. Aber das ist noch nicht sicher.«
»Was fehlt dir denn?«
Ja, was fehlte ihm eigentlich? Was konnte ihm nur fehlen? Das ganze Blut schoss ihm in die Ohren. Er zog seine Schultern leicht hoch, damit die Ohren nicht so gut zu sehen waren.
»Du kriegst vielleicht rote Ohren«, sagte Camilla.
»Genau das ist es ja«, nickte Johannes.
»Was ist das?«
»Das ist das Symptom.«
»Rote Ohren? Das Symptom wofür?«
»Für Purpurohrenitis.«
Woher hatte er das denn jetzt? Es war ihm einfach rausgerutscht. Seine Ohren wurden noch röter. Purpurrot!
»Purpurohrenitis?«
»Das ist eine ganz seltene Krankheit.«
»Oh!« Camilla machte einen Schritt nach hinten. »Ist die gefährlich?«
»Sie ist definitiv nicht ansteckend«, erklärte Johannes.
»Aber die Krankheit kann ... ähm ... gefährlich sein.« Er musste ja total verrückt sein. Hatte er nicht einmal mehr genug Grips im Kopf, um zu wissen, wann es an der Zeit war, aufzuhören? Aber sein Mund plapperte von ganz allein weiter, er erklärte: »Die rote Farbe ist das erste Stadium. Danach folgen verminderte Hörfähigkeit, Fieberfantasien und im schlimmsten Fall ...«
Nun, was folgte im schlimmsten Fall? Camilla starrte ihn in einer Mischung aus Abscheu und Mitleid an. Er fühlte sich wirklich nicht sehr wohl.
Die Rettung kam in Form eines Busses.
»Da kommt der Bus! Tschüs!«
Er lief los. Nur gut, dass er Geld in der Tasche hatte, dreißig Kronen, wenn er sich nicht irrte. Camilla rief ihm etwas nach. Das ging im Lärm des Busses unter. Er drehte sich um und hob die Hand, womit er ein munteres und tapferes Tschüs andeuten wollte.
Blödmann, dachte Johannes, während er durch die schmutzigen Fensterscheiben hinausstarrte. Jetzt wird Camilla das der ganzen Klasse erzählen. Und eine Entschuldigung brauche ich auch. Er stöhnte. So was Blödes! So was so verflucht, verdammt, verflixt und zugenäht Blödes! Und alles nur, weil ich gestern so vollkommen verdattert war, als die Eule dastand und so eklig aussah. Aber jetzt wird alles nur noch schlimmer! Er stöhnte wieder.
»Bist du krank, mein Junge?«, fragte ihn eine Dame besorgt, die neben ihm saß.
»Ja«, nickte Johannes. »Im Kopf.«
»Oje«, sagte die Dame. »Das ist aber nicht schön.«
»Nein«, bestätigte Johannes. »Das ist wirklich nicht schön. Das ist ziemlich schlimm. Total katastrophal.«
»Oje«, sagte die Dame wieder und sah aus, als wollte sie ihm über den Kopf streicheln. Genau in dem Moment hielt glücklicherweise der Bus an und Johannes konnte dem Kopfstreicheln entkommen.
Einige Kinder schwänzen die Schule voller Freude und Erfindungsreichtum. Die meisten jubeln, wenn sie unerwartet einen freien Tag bekommen. Johannes hatte noch nie geschwänzt, er freute sich ganz und gar nicht und es konnte ihm nicht einmal im Halbschlaf einfallen, zu jubeln. Er blieb mit hängenden Armen an der Bushaltestelle stehen. Dort stand er eine ganze Weile. Man konnte meinen, er denke nach, aber das tat er nicht. Er hatte aufgehört zu denken und fühlte sich innerlich ganz leer. Ein Auto fuhr vorbei, durch eine Riesenpfütze, die noch vom gestrigen Regenwetter übrig war, und ließ eine Dreckwelle über Johannes’ Hosenbeine schwappen. Das brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Hier kann ich jedenfalls nicht stehen bleiben, dachte er. Er ging los.
Es war jetzt neun Uhr. Noch fünfeinhalb Stunden bis halb drei. Fünfeinhalb Stunden, um nichts zu tun. Nach Hause konnte er nicht gehen, denn da saß Vater und schrieb.
Johannes lief ein bisschen auf gut Glück herum und schaute sich die Schaufenster an. Er ging in einen Buchladen und blätterte ein paar Bücher durch, die einigermaßen interessant aussahen. Er fand Vaters letztes Buch und fühlte, wie es in ihm prickelte, ein bisschen Stolz stieg in ihm auf.
Er erinnerte sich daran, wie glücklich sein Vater gewesen war, als das Buch angenommen wurde. Mutter hatte sich auch gefreut, beide waren zusammen richtig fröhlich gewesen. Vater hatte eine Flasche Schampus gekauft und den Korken knallen lassen, dass er an die Decke flog. Mutter hatte nur gelacht, als es aus der Flasche auf den weißen Teppich schäumte, statt wie sonst hysterisch aufzuschreien. Dann hatte Vater seinen Job als Lehrer gekündigt. Das war jetzt ein Jahr her.
Es war schon komisch, hier mit Vaters Buch in den Händen zu stehen, ganz heimlich der Sohn des Schriftstellers zu sein. Aber plötzlich bekam er Angst, auf frischer Tat ertappt zu werden, obwohl er doch gar nichts Falsches gemacht hatte. Schnell stellte er das Buch wieder dorthin zurück, wo er es gefunden hatte.
Er guckte sich einige Puzzlespiele an und schnüffelte an ein paar Radiergummis. Er fummelte an einem albernen Bleistiftanspitzer herum, der so aussehen sollte wie eine Pistole. Er öffnete eine Federtasche mit einem Dinosaurier drauf und zehn Filzstiften drin.
»Möchtest du etwas kaufen?«, fragte eine unfreundliche Stimme hinter ihm. Sie gehörte einer Dame, die aussah wie Boris Jelzin oder wie immer er auch hieß, der Präsident von Russland.
»Ich weiß nicht«, antwortete Johannes, »vielleicht.«
Er zupfte an einem Bleistift mit Mickymaus an dem einen Ende, während ihm die Dame in den Nacken pustete. Pust, pust, brauchst gar nicht zu glauben, dass du hier was klauen kannst, du Schulschwänzer. Johannes konnte ihre Gedanken sozusagen durch ihr Atmen hören.
»Suchst du was für die Schule?«
Johannes legte den Bleistift hin und ging hinaus.
Die Uhr zeigte neun Uhr neunzehn.
Vor einer Konditorei blieb er stehen und drückte sich die Nase an der Scheibe platt. Ein ganzes Heer leckerer Kuchen war aufmarschiert und rief ihn zu sich. Napoleonskuchen und Kopenhagener, Käsekuchen und Schokoladenecken. Johannes merkte, dass er Hunger hatte, obwohl er doch erst vor einer Stunde gefrühstückt hatte. Vielleicht reichte sein Geld ja für einen Käsekuchen. Er ging hinein.
»Zwölf fünfzig«, sagte die Frau hinter dem Tresen. Dann hatte er nicht mehr genug für den Bus nach Hause. Aber er konnte ja auch zu Fuß nach Hause gehen. Zeit genug hatte er schließlich. »Zum Hieressen?«, fragte die Frau. Johannes nickte, bezahlte und setzte sich an einen Tisch in der Nähe des Fensters.
In einer Ecke saßen zwei alte Damen. Sie saßen ganz still ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Ab und zu hoben sie mit zitternden Händen ihre Kaffeetassen und tranken daraus. Schlürf, erklang es. Johannes hatte das Gefühl, sie würden ihn anstarren. Er guckte aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite ging eine alte Frau in grauem Hut und Mantel. Eine andere alte Frau mit rot kariertem Einkaufswagen und schiefer Brille blieb vor dem Schaufenster der Konditorei stehen und guckte hinein, sie sah Johannes direkt in die Augen. Sie sah verkniffen aus. Wusste sie, dass er schwänzte? Er guckte auf seinen Teller und biss von seinem Kuchen ab. Schlürf, erklang es vom Ecktisch. Ganz bestimmt guckten sie ihn an, die beiden Schlürferinnen.
Alle anderen sind bei ihrem Job, dachte Johannes. Bei der Arbeit oder in der Schule. Nur ein paar alte Frauen sind unterwegs und vertreiben sich die Zeit um ... er guckte auf seine Uhr ... um neun Uhr fünfunddreißig an einem gewöhnlichen Alltag. Alte Frauen. Und ich. Schlürf. Johannes aß von seinem Kuchen. Die Frau hinterm Tresen gähnte verstohlen.
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