»Warte mal!« Die Stimme des alten Mannes zitterte. »Lass dich genauer ansehen! Wenn ich nur meine Brille finden könnte! Diese verfluchten Augen ...« Er suchte im ganzen Raum, wobei er sich nervös an den Fingern zupfte und vor sich hin murmelte. Als er Johannes den Rücken zuwandte, entdeckte dieser eine merkwürdige runde Brille, die der Alte an einer Schnur um den Hals hängen hatte. »Sie haben sie auf dem Rücken hängen«, erklärte Johannes und bereute es sofort. Er hatte absolut keine Lust, noch weiter angestarrt zu werden. Aber er war zu höflich und zu unsicher, um einfach so davonzugehen. Er blieb wie ein Dummkopf mit brennenden Ohren und klopfendem Herzen stehen.
»Wie ist die denn dahin gekommen«, seufzte der Alte, während er die Brille an den rechten Platz schob. »So. Lass mich mal sehen.« Er musterte Johannes’ Gesicht und hielt bei der Beule auf der Stirn inne. Seine Augen weiteten sich und er wurde blass.
»Das Zeichen ...«, flüsterte er. »Das Zeichen des Einhorns.«
»Nein«, widersprach Johannes. »Ich bin die Treppe runtergefallen.«
»Und dein Arm? Wie geht es dem?« Der Alte fasste seine Schulter an, umklammerte sie mit seinen Fingern, als wäre seine Hand eine Klaue.
»Er ist noch ein bisschen taub«, sagte Johannes. Das Ganze gefiel ihm nicht. Er versuchte aufzustehen, aber der kleine Mann drückte ihn wieder in die Polster.
»Taub? Ja, das glaube ich gern. Das ist eine Tragödie.«
»Na, das ist wohl etwas übertrieben«, murmelte Johannes.
Der Alte ließ ihn empört los.
»Übertrieben? Sag mal, hast du nicht gemerkt, wie ernst das ist?«
Johannes sprang auf. Der Typ war ja total plemplem, da gab’s keinen Zweifel. Lieber wollte er so schnell wie möglich hier rauskommen, bevor dem Kerl noch etwas wirklich Verrücktes einfiel. Jetzt wollte er Johannes schon wieder mit seinen Fingern packen ... Johannes entwischte und nahm Kurs auf die Treppe. »Tschüs«, sagte er schnell.
Der alte Mann bekam nur Luft zu fassen. Er lief hinterher, aber Johannes war zu schnell. Eins, zwei, drei und Johannes war an der Tür.
»Geigenhansel! Warte doch! Ich habe etwas für dich! Ich habe ...«
Aber Johannes hörte nicht, was der Alte hatte. Er war bereits aus dem Geschäft hinausgelaufen. Auf der anderen Straßenseite drehte er sich um. Jetzt konnte er sehen, was auf der Tür stand. GEIGENBAUER, stand da. Hatte der Typ deshalb so sonderbar reagiert, als Johannes ihm erzählte, dass er Geige spielte? Über den Buchstaben waren drei Halbmonde gemalt. Ein gelber, ein weißer und ein blauer. Komischer Ort. Komischer Kerl. Ein alter, verrückter Zwerg! Johannes lief es eiskalt über den Rücken. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Himmel leuchtete rosa und es wurde allmählich dunkler. Johannes guckte auf seine Uhr. Schon vier! Wie konnte es nur schon so spät sein? So lange war er doch nun auch nicht bei dem Geigenbauer gewesen? Jetzt warteten sie bestimmt schon auf ihn. Sie wollten doch zu Großmutters Geburtstag.
Johannes beeilte sich nach Hause zu kommen. Erst als er auf dem Flur stand und sich die Stiefel auszog, wurde ihm klar, dass er Mutters Schirm vergessen hatte.
Viertes Kapitel
in dem zwei Kusinen kichern und Johannes ein Stück Kuchen im Hals stecken bleibt
»Ihr müsst was singen!«, forderte Großmutter. »Ich will ein richtig stimmungsvolles Lied zu meinem zweiundsiebzigsten Geburtstag!«
Hoch soll sie leben!
Sie sangen alle zusammen. Mutter, Vater, Johannes, Gry. Tante Trine und Onkel Håkon. Die Kusinen Mia und Stine. Der Gesang erfüllte Großmutters kleines Wohnzimmer vom Boden bis zur Decke. Großmutter nickte zufrieden. »Danke, vielen Dank. Das war schön. Will noch jemand Limonade?«
»Jetzt musst du aber die Kerzen auspusten«, meinte Vater.
Großmutter holte tief Luft und ließ sie wieder raus. Die sieben großen und die zwei kleinen Kerzen auf der Torte erloschen.
»Bravo! Was wünschst du dir?«
»Ich wünsche mir ... ich wünsche mir ... eine Reise rund um die Welt! Auf die Spitze des Kilimandscharo zu klettern. Und ein kleines Haus auf dem Land ... wenn ich alt bin. Und eine Schulter, an die ich mich lehnen kann. Das alles wünsche ich mir.«
»Das ist ja nicht gerade wenig«, sagte Mutter.
Johannes sah, wie Tante Trine und Onkel Håkon sich anguckten. Bestimmt denken sie jetzt, dass Großmutter etwas wunderlich ist, dachte Johannes. Vielleicht meinten sie ja auch, dass das mit der starken Schulter nicht so recht passte. Aber schließlich war es schon so lange her, dass Großvater gestorben war. Da war es doch kein Wunder, dass Großmutter sich ab und zu einsam fühlte? Wie nannte Vater Tante und Onkel noch? Die sind eckig , sagte er immer.
»Und, bist du damit auch ein bisschen zufrieden?«
Mutter legte Großmutter ihr Geschenk auf den Schoß. Es war ein hübsches Tuch in bunten Farben. Großmutter band es sich um den Hals.
»Oh! Das kann ich gut gebrauchen. Für die Reise!«
Alle lachten. Tante Trine sagte: »Du wirst doch nicht ...«
»Nein, nein. Das sind nur Träume. Aber man weiß ja nie.«
Mutter seufzte. »Reisen. Stellt euch vor einfach von dem ganzen Mist wegreisen. Von der Dunkelheit, dem Regen und dem Matschwetter. Wir können ja nicht einmal davon träumen.«
»Else ist im Augenblick ziemlich unzufrieden«, erklärte Vater.
»Unzufrieden! Wenn es das nur wäre!«
»Wir fahren über Weihnachten nach Thailand«, sagte die Tante. »Nach Thailand!«
»An die weißen Strände dort.«
»Und zu den flotten Mädchen!«, schmunzelte Onkel Håkon.
Jetzt schauten sich Mutter und Vater an. Ganz schnell, damit es niemand mitbekam. Aber Johannes sah es. Er bekam eigentlich immer alles mit.
»Schließlich braucht man ein bisschen Abwechslung vom Alltag. Und wir können es uns ja leisten.«
»Das Geschäft läuft momentan einfach fantastisch«, erklärte Onkel Håkon.
Mutter sagte: »Also, was uns betrifft, sind wir schon froh, wenn wir die üblichen, fantastischen Alltagsrechnungen bezahlen können.«
Vater räusperte sich.
»Wie gesagt, Else ist etwas unzufrieden.«
»Das Schreiben bringt wohl nicht so viel Geld«, meinte Onkel Håkon. »Wie lange schreibst du jetzt eigentlich an deinem Buch?«
»Seit einem Jahr«, sagte Vater kurz und goss sich noch Kaffee in die Tasse.
»Seit einem Jahr! Meine Güte. Und dabei ist es doch nur Erfundenes, worüber du da schreibst. Also, ich für meinen Teil, ich halte mich lieber an die Zeitungen.«
»Das sollten vielleicht mehr Leute machen«, murmelte Mutter.
Plötzlich wurde es ganz eklig still. Johannes guckte von seinem Tortenstück auf. Mutter fummelte an der Tischdecke. Vater kippte den Kaffee so schnell in sich hinein, dass er sich bestimmt verbrannte. Großmutter sagte entschlossen: »Nein, jetzt ist aber genug über Geld geredet worden! Jetzt kann Johannes etwas für uns spielen. Wenn er will«, fügte sie noch hinzu.
Er hatte seine Geige mitgebracht. Das hatte er Mutter versprochen, denn schließlich bezahlte Großmutter die Unterrichtsstunden und so weiter. Aber da hatte er nicht gewusst, dass Onkel und Tante und die Kusinen auch da sein würden. Er warf Mia und Stine, seinen Kusinen, einen Blick zu. Schon die Namen klangen wie Kichern. Mia war ein Jahr älter als er, Stine ein Jahr jünger. Beide waren viel größer als er.
Mutter sah ihn an. Du hast es versprochen, sagte ihr Blick. Und auf einmal schauten alle ihn an. Tante Trine lächelte süßlich und aufmunternd. Onkel Håkon versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. Vater hatte bereits den Notenständer aufgestellt. Es führte kein Weg daran vorbei.
»Nur wenn du willst«, wiederholte Großmutter.
»Doch, schon.«
Die Kusinen sahen sich viel sagend an.
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