Er drehte sich im Laufen um und sah, dass Kyrre wieder auf die Beine gekommen war. Kyrre rief etwas, dann setzten sich alle in Bewegung. Sie liefen schneller als Johannes. Sie würden ihn einholen. Und dann ... Johannes rannte. Um eine Ecke und in eine andere Straße. Die Verfolger waren ihm auf den Fersen. Johannes lief in eine enge Gasse, bog um eine weitere Ecke und befand sich plötzlich in einer Straße, die er noch nie gesehen hatte. Er lief weiter. Um noch eine Ecke – und in dem kurzen Augenblick, solange er für die Jungs außer Sicht war, nahm er die Gelegenheit wahr und schlüpfte durch die nächste Ladentür.
Das heißt, er schlüpfte nicht. Er stolperte. Drei Stufen hinunter und »peng« mit dem Kopf auf den Boden, während er gleichzeitig hörte, wie die Tür mit einem Pling hinter ihm wieder ins Schloss fiel.
Drittes Kapitel
in dem Johannes sinkt
Johannes rollte sich am Fuße der Treppe zusammen. Durch die Glastür weiter oben konnte er Kyrre und die anderen vorbeirennen sehen. Johannes atmete erleichtert auf und rieb sich die Stirn, wo sich schon eine Beule bildete. Es tat weh, wenn er sie anfasste. Am Ellbogen hatte er sich auch wehgetan. Der ganze Arm war gefühllos. Johannes’ Augen füllten sich plötzlich mit Wasser. Nur nicht heulen! Nicht hier, nicht in einem Geschäft, das voll war mit ... Plötzlich wurde ihm klar, dass er ganz allein im Geschäft war. Er zwinkerte ein paar Mal und sah sich dann um.
Das Geschäft war nicht groß und ziemlich dunkel. Ein dunkelbraun-gelber Samtvorhang hing hinter einem massiven Tresen am Ende des Raums. Der Tresen war staubig, als würde er nie benutzt werden. Die Wände waren rot, mit einem feinen Muster auf der Tapete. Johannes erinnerten die Muster an Schriftzeichen, vielleicht arabische oder indische? Bis auf einen schweren Schrank und zwei tiefe Sessel war der Raum leer.
Was für em Geschäft konnte das sein? So weit Johannes sehen konnte, gab es hier ja nichts zu verkaufen. Und warum war es so dunkel? War der Strom ausgefallen? Johannes guckte zur Decke, wo ein großer Kronleuchter aus Schmiedeeisen hing, so einer, in den man Kerzen steckt. Der musste sich gedreht haben oder er war irgendwie kaputtgegangen, denn die nicht angezündeten Kerzen hingen mit dem Kopf nach unten.
Johannes warf einen Blick auf die Glastür, durch die er gerade eben hereingestolpert war. REUABNEGIEG, stand auf der Tür. REUABNEGIEG?
»Ja bitte?«, erklang es plötzlich hinter ihm. »Kann ich irgendwie behilflich sein?«
Johannes drehte sich um. Hinterm Tresen stand ein kleiner alter Mann, sein Gesicht war verschrumpelt wie eine Rosine und er hatte graues, wirres Haar, das er vergeblich mit einem kleinen Knoten im Nacken hatte zähmen wollen. Johannes konnte nicht sehen, wo er hergekommen war. Es musste noch ein Zimmer hinter dem Vorhang geben. »Kann ich irgendwie behilflich sein?«, fragte der Mann noch einmal. Er blinzelte Johannes freundlich und zugleich neugierig aus Augen an, die so dicht zusammenstanden, dass es schien, als würde er schielen.
»Nein, ich ... ich habe mich wohl verirrt«, sagte Johannes. »Entschuldigung.«
»Das kann jedem mal passieren«, nickte der Mann. »Man selbst hat auch schon Fehler gemacht. Große und kleine. Aber wundere dich nicht, wenn es sich hinterher zeigt, dass die Fehler doch das einzig Richtige waren. Das hat man inzwischen gelernt.«
»Ja, danke«, sagte Johannes ohne auch nur einen blassen Schimmer zu haben, was der Alte eigentlich meinte. Er ging die drei Treppenstufen zur Glastür hoch. Aber als er hinausgehen wollte, hörte er draußen die Stimmen von Kyrre und den anderen, worauf er unentschlossen stehen blieb.
»Vielleicht kann man doch irgendwie behilflich sein?« Der ulkige alte Mann folgte Johannes’ Blick auf die Straße, wo Kyrre mit dem Rücken zu ihnen stand und sich gestikulierend mit seinen Kumpanen beriet. »Die Augen sind nicht mehr so gut, aber man hört ausgezeichnet. Da draußen sucht jemand jemanden, oder?« Johannes nickte.
»Dich, vermute ich einmal?«
Johannes nickte wieder. Der alte Mann zog die Augenbrauen hoch.
»Was hast du gemacht?«
»Gar nichts. Sie wollten mich kriegen und ... da bin ich weggerannt.«
»Ach so. Das war vernünftig. Das Gleiche hätte man auch getan.«
Der alte Mann kam hinterm Tresen hervor und Johannes sah zu seinem Schrecken, dass der Mann nicht größer war als er selbst. Johannes wollte ihn nicht anstarren. Mit wachsender Wut fühlte er, wie seine Ohren heiß wurden. Er suchte nach einer Stelle, wohin er seinen Blick richten konnte. Er landete auf dem einen Sessel. »Haben die gesehen, dass du hier reingegangen bist?« Der alte Mann flüsterte jetzt.
»Nein.«
»Dann sind sie bestimmt gleich weg.«
Eine Zeit lang sagte keiner von beiden etwas, sie horchten nur auf die aufgeregten Stimmen draußen. Dann fragte der Mann leise: »Warum wollten sie dich kriegen?«
»Ach«, sagte Johannes. »Die ... die haben mich geärgert. Deshalb.«
Er hob den Schirm hoch.
»Wie schon gesagt, ich kann nicht gut sehen. Die Augen sind nicht mehr das, was sie mal waren. Was ist das?«
»Ein Damenschirm.«
»Aha. Ein Damenschirm. Zum Schutz gegen Regen, wie ich annehme. Das erscheint mir an einem Tag wie diesem nur vernünftig. Ist das nicht erlaubt? Einen Damenschirm zu benutzen, wenn es regnet?«
»Doch«, sagte Johannes. »Aber ich bin ja nun ... ähm ... ich bin ja nun nicht gerade eine Dame, nicht wahr.«
»Du meinst damit, dass es Jungs nicht erlaubt ist, Damenschirme zu benutzen? Hängt das so zusammen?«
»Nein, aber ... also, irgendwie ... manche finden das komisch. Und dann ärgern sie einen.«
Der alte Mann schnaubte. »Idiotisch, wenn man mich fragt. Komm, setzen wir uns. Diese Sessel sind für Bekenntnisse wie geschaffen.«
Der Typ ist ja reichlich schrullig, dachte Johannes. Aber er setzte sich trotzdem. Oder er sank vielmehr. Er sank in den weichsten Sessel, in dem er jemals gesessen hatte.
»Aber das ist nicht alles«, platzte es aus Johannes heraus. »Sie ärgern mich auch wegen anderer Sachen.«
»Wirklich? Erzähl!«
Johannes wand sich, es war ihm peinlich. »Ach. Da ist so einiges. Zum Beispiel, weil ich für mein Alter ein bisschen klein bin.«
Er hätte sich die Zunge abbeißen können. Das konnte er doch keinem zumuten, der selbst so was wie ein Zwerg war! Der Mann versank ja fast in seinem langen grauen Mantel. Schnell fuhr Johannes fort: »Und wegen der Sachen, die ich manchmal sage.«
»Ach ja? Was sagst du denn?«
»Nichts Besonderes. Nur wenn ich einfach so träume. Dann denke ich mir eben was aus. Und dann antworte ich aus dem blauen Dunst heraus. Kyrre sagt, ich bin dann Bzzz klick. Aber am meisten ärgern sie mich wegen der Geige.«
Als Johannes Geige sagte, geschah etwas Merkwürdiges. Der Mann erstarrte und holte tief Luft, bevor er schnell wiederholte: »Geige ...«
»Ja«, nickte Johannes. »Ich habe schon ein paar Mal überlegt, ob ich nicht aufhören soll. Das macht nämlich keinen Spaß, wenn man die ganze Zeit geärgert wird deswegen. Sie nennen mich Geigenhansel. Den Geigenhansel mit der Fiedel.«
Der alte Mann griff sich an den Hals. »Geigenhansel!«
»Ja«, bestätigte Johannes. »Aber so heiße ich natürlich nicht. Ich heiße ...«
Der Alte unterbrach ihn. »Geigenhansel! Ist das wirklich wahr?«
»Doch, ja.« Johannes nickte. »Ja, leider.«
Jetzt starrte der Mann ihn mit so großen Augen an, dass es ganz unangenehm war. Johannes guckte aus dem Fenster. Er konnte Kyrre und die anderen nicht mehr sehen oder hören. Es war höchste Zeit, nach Hause zu gehen.
»Nun ja, ich muss jetzt wohl los«, sagte Johannes. »Vielen Dank für ...« Er zögerte einen Moment, denn er wusste nicht so recht, wofür er sich eigentlich bedanken sollte. »... für die Hilfe«, sagte er schließlich und wollte gehen.
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