»Schon gut«, sagte die Lehrerin, »ich habe den Eindruck, ihr seid alle nicht besonders konzentriert bei der Sache, ich kenne doch meine Pappenheimer. Also. Die Eule ist ...«
Aber Johannes hörte nicht, was die Eule war. Er starrte durchs Fenster auf den Regen, der unaufhörlich auf den tristen, grauen Asphalt des Schulhofs prasselte. Einer aus der ersten Klasse überquerte den Platz Richtung Jungsklo, das eine Reihe zerbrochener Fensterscheiben aufzuweisen hatte.
Johannes seufzte. Er wünschte sich weit weg. Er schloss die Augen und ein Schwall bunter Farben explodierte hinter seinen Augenlidern. Er hielt eine leuchtende gelbe Kugel fest. Hielt sie fest, während sie durch das Klassenzimmer segelte. Raus. Fort! Weg vom Regen und all dem Grauen, Trüben. Er flog mit der leuchtenden Kugel unter einem Regenbogen hindurch, über ein glänzendes Meer, kam an einem Jahrmarkt auf einem weißen Strand vorbei und an einem kunterbunten Karnevalsumzug. Weiter. Über ein Gebirge, das lila und purpurn glänzte.
»Wer von euch hat schon mal eine Eule gesehen?« Die Stimme der Lehrerin ging in ein Ohr rein und zum anderen wieder raus, wie ein leises, weit entferntes Summen.
Vor sich erblickte Johannes einen Wald in vielen Grünschattierungen. Sommer! Am Rand des Walds lag ein kleines weißes Haus mit einer Glasveranda und roten Kletterrosen. Mitten auf dem Hofplatz stand eine Birke und lehnte sich an einen alten Brunnen. Ein Mädchen saß unter der Birke. Ein Mädchen mit dicken, roten Haaren. Noch nie hatte Johannes solches Haar gesehen. Es wogte um ihren Kopf wie eine Feuerwolke. Plötzlich stand das Mädchen auf und ging barfuß über den Hof. Ihr weißes Kleid war sonderbar altmodisch oder vielleicht ja auch schrecklich modern. Johannes kannte sich mit Kleidern nicht so genau aus. Jetzt setzte sie sich auf die Steintreppe vor dem Haus. Johannes konnte hören, wie sie leise vor sich hin summte. Eine sehr traurige Melodie. Und während sie summte, hob sie den Kopf und sah ihn mit grünen, traurigen Augen an.
Aber es sollte doch nicht traurig sein! Farbenreisen sollten fröhlich sein. Das war schließlich der Witz dabei! Johannes kniff die Augen noch fester zusammen, damit das traurige Mädchen verschwände.
»Johannes!«, sagte die Lehrerin.
Jäh war Johannes wieder im Klassenzimmer.
»Aber ich habe nie eine Eule gesehen, wirklich nicht«, sagte Johannes.
Zuerst war alles still. Dann wogte das Lachen über ihn hinweg. Und in dem Moment begriff er, worüber sie lachten.
In der Tür stand die Zahnärztin, die von den Kindern die Eule genannt wurde. Niemand wusste, wer auf den Namen gekommen war. Aber er passte perfekt. Ihre Nase krümmte sich wie ein Schnabel über dem winzigen Mund. Hinter den dicken Brillengläsern, die wie ein klobiges Möbelstück vor ihrem Gesicht standen, starrten ihn die Augen an. Ihre Schultern hatte sie wie üblich leicht hochgezogen und der gewaltige Busen hob und senkte sich, hob und senkte sich. Einmal hatte sie einem armen Kerl direkt ins Zahnfleisch gebohrt, dass das Blut nur so spritzte. Mit Absicht . Alle waren fest davon überzeugt. Sie hasste Kinder, da waren sie sich auch sicher. Und jetzt hasst sie mich sicher am allermeisten von allen, dachte Johannes. Hilfe!
Die Lehrerin klopfte aufs Pult. Das Lachen erstarb, aber die angespannte Stille, die darauf folgte, war noch schlimmer. Johannes spürte, wie seine Kopfhaut prickelte. Seine Ohren wurden glühend heiß. Er sah, dass Kyrre Camilla etwas zuflüsterte.
»Du sollst morgen zur Zahnärztin, Johannes.«
Nein! Johannes hatte sowieso eine Mordsangst vor der Eule. Dass sie jetzt in der Tür stand und ihn noch mehr hasste als vorher, machte die Sache nicht besser. Nun lächelte sie. Ein böses, rachsüchtiges Lächeln. Ja ja, mein lieber Johannes. Du meinst also, ich sehe aus wie eine Eule. Warte nur ...
»Morgen«, sagte die Eule. »Um halb zehn. Ich sage immer einen Tag vorher Bescheid. Damit ihr ...«
»... gewarnt seid«, flüsterte einer.
»... euch drauf einstellen könnt.«
Johannes spürte, wie sein Herz einen Sprung machte und dann in den Bauch plumpste, wie ein schwerer Stein. Ohne sich zu besinnen sagte er: »Aber ich kann nicht!«
Alle sahen ihn an. Johannes fuhr fort: »Ich muss zum Zahn ... ich meine, ich muss zum Arzt.«
Die Lüge war so durchsichtig wie ein frisch geputztes Fenster. Aber zu Johannes’ großer Überraschung zuckte die Eule nur mit den Schultern.
»Dann übermorgen, zur gleichen Zeit. Wer ist der Nächste im Alphabet?«
»Arnstad«, sagte die Lehrerin, »Camilla.«
»O nein«, sagte Camilla und hielt sich den Mund zu. Die Eule nickte säuerlich und mit einem letzten hasserfüllten Warte-nur-du-kommst-auch-noch-dran-Blick, den sie Johannes zuwarf, zog sie sich zurück und schloss die Tür.
Johannes fühlte sich ganz schwindlig. Er hatte einen Aufschub bekommen. Aber dafür hatte er jetzt ein neues Problem.
»Hast du eine Entschuldigung?«, fragte die Lehrerin.
»Eine Entschuldigung?«
»Dass du morgen zum Arzt musst. Hast du die Entschuldigung vergessen?«
»Wissen Sie was? Ich glaube, er lügt«, sagte Grete.
»Tue ich nicht«, sagte Johannes.
»Tust du wohl«, sagte Grete. »Damit du nicht zur Zahnärztin musst. Und jetzt muss Camilla stattdessen hin!«
»Das ist gemein«, rief Camilla.
Die Lehrerin schüttelte den Kopf. »Jetzt ist Schluss damit. Schließlich müssen alle früher oder später zum Zahnarzt. Und ich bin überzeugt, dass Johannes eine Entschuldigung mitbringt, wenn er übermorgen wieder zur Schule kommt. Nicht wahr, Johannes?«
»Natürlich«, murmelte Johannes. In dem Augenblick war es noch schrecklich lange hin bis übermorgen.
Glücklicherweise goss es so stark, dass sie alle Pausen drinnen bleiben durften. Johannes gelang es, den Gedanken an die Eule weit von sich zu schieben. Bis zur letzten Stunde, als ein zusammengeknüllter Zettel auf seinem Tisch landete. Du Armer, übermorgen . Johannes sah sich um. Roar in der Nebenreihe, zwei Tische hinter Johannes, riss die Augen auf und zog eine schreckliche Fratze.
DU ARMER, ÜBERMORGEN! Er knüllte den Zettel wieder zusammen, steckte ihn in die Tasche und versuchte an alles Mögliche zu denken, nur nicht an die Eule, und gerade deshalb war es genau das, was er tat, er dachte in einem fort an die Eule, bis er innerlich ganz aufgelöst war.
Johannes ging nach Hause, während der Regen auf den rosa geblümten Damenschirm trommelte. Übermorgen würde er sterben. Dann konnte er gleich sein Testament machen. Gry sollte seine alten Spiele bekommen. Vater konnte die Bücher kriegen, schließlich schrieb er ja selbst welche. Aber seine Geige? Das Beste, was er besaß?
Camilla, dachte Johannes. Camilla soll die Geige kriegen. Dann merkt sie, dass ... und dann wird sie in Tränen ausbrechen und mich schrecklich vermissen. Ich werde sie ihr morgen in der Schule geben.
Aber er konnte doch morgen gar nicht in die Schule gehen! Er sollte doch zum Arzt! Und eine Entschuldigung brauchte er auch noch.
»Hallo, Geigenhansel!«, hörte er plötzlich hinter sich.
»Du hast aber einen schönen Regenschirm!«
Das war Kyrre mit drei anderen. Sie zupften an seinem Schirm. »Leih ihn uns doch mal, Mary Poppins!«
»Das ist nicht meiner«, sagte Johannes. »Er gehört meiner Mutter.«
»Ach! Der Mama gehört er! Mamachen leiht ihren niedlichen Schirm aus! Und zwar ihrem niedlichen Töchterchen!«
Johannes ging schneller, aber das war nicht so leicht, denn die ganze Zeit zog Kyrre an dem Schirm und versuchte ihn zurückzuhalten. Ohne zu überlegen drehte Johannes sich um, klappte den Schirm zusammen und hielt ihn wie ein Schwert vor sich. »Haut ab!«
Mit einer höhnischen Grimasse packte Kyrre den Schirm und versuchte ihn Johannes aus den Händen zu ziehen. Johannes wich aus und mit einem Mal, ohne dass er wusste, was eigentlich passiert war, lag Kyrre mit der Nase mitten in einer großen Pfütze. Johannes drehte sich auf den Hacken um und lief los. Zum zweiten Mal heute, mit Stiefeln, die zehn Kilo wogen, mindestens.
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