Unmut entsteht, wo wir mit Erwartungen an etwas herantreten und diese sich nicht mit den Erfahrungen decken. Lässt man sich auf das Schimpfen über die Heimatregion ein, kann man daraus Erwartungen ablesen. Schimpfen als Ausdruck des Unmuts entwickelt identitätsstiftende Kraft. Es dient der Positionierung in Raum und Zeit. Der Prozess dieser verbal ausgetragenen Positionierung offenbart Konflikte in der Identitätsfindung und lässt erahnen, was von einer Region bezüglich der Lebensqualitäten erwartet wird. Dabei sind wirtschaftliche und identitätsbezogene Argumente untrennbar miteinander verwoben. Man wünscht einen Raum, der den nötigen wirtschaftlichen Hintergrund bietet, sich privat zu entfalten und soziale Beziehungen aufbauen und pflegen zu können. 8Es stellt sich die Frage, wie aus der Enttäuschung heraus konstruktive Potenziale für die Gestaltung von Heimat entwickelt werden können. Erfahrungen aus ethnografischen Datenerhebungen in ostdeutschen Dörfern und Kleinstädten zeigen, ohne eine sensible Aufarbeitung der Transformationserfahrungen wird eine zukunftsorientierte Arbeit an der Heimat schwierig. Es geht dabei nicht nur darum, Verletzungen und Verluste herauszuarbeiten, sondern auch die erstaunlichen Lebensleistungen vieler Menschen zu würdigen, die im gesellschaftlichen Umbruch nach 1989 ihr Schicksal und das ihrer Wohnorte selbst in die Hand nahmen. Es handelt sich dabei um Transformationserfahrungen, die für eine gesamte Gesellschaft angesichts des fortschreitenden Wandels von großem Gewinn sein können und Inhalt kultureller Bildungsprojekte sein sollten.
Meine bisherigen Feldstudien in Ostdeutschland brachten einen Mangel an Zukunftsperspektiven für viele Dörfer und kleine Städte zutage. Viele Menschen glauben weder an einen wirtschaftlichen Aufschwung noch an den Zuzug neuer und jüngerer Bürger*innen. Zahlreiche kulturell aktive Bürger*innen hoffen, den Status Quo irgendwie halten zu können, ohne wirklich an eine Verbesserung der Situation zu glauben. Häufig haben die Menschen schon gar keinen Mut mehr, Visionen für die Zukunft zu entwickeln. „Wer weiß, wie lange es das noch gibt.“ Diesen Satz hörte ich häufig, ob im Heimatmuseum, im Jugendclub, beim Sportverein oder in der Kirchgemeinde.
Diese Haltung ist gerade für jüngere Menschen wenig inspirierend, um sich einzubringen. Zuverlässige kulturelle Bildungsprogramme sollten hier entgegensteuern und ermuntern, gemeinsam Perspektiven für ein gutes Zusammenleben zu entwickeln. Unmut sollte man dabei nicht überhören, denn in ihm sind die Utopien enthalten, die als Grundlage dieser Zukunftsdiskurse dienen können.
Heimat in der kulturellen Praxis
In Verbindung mit dem Begriff Heimat wird häufig auch von Identität gesprochen. Heimat bezieht sich auf den Raum, auch wenn dieser nicht strikt einzugrenzen ist, während Identität eine innere Struktur umschreibt. Heimat und Identität werden häufig erst zum Thema, wenn eine Störung sozialer und kulturaler Tatbestände vorliegt.
Identität steht für die „Übereinstimmung des Menschen mit seiner Umgebung“ und wird als „Gegenbegriff zur Entfremdung“ angewendet. 9Rahel Jaeggi beschreibt Entfremdung als eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“. Weiter erklärt sie: „Eine entfremdete ist eine defizitäre Beziehung, die man zu sich, zur Welt und zu den Anderen hat.“ 10Entfremdung enthält den vielschichtigen Begriff „fremd“. In der deutschen Sprache zeichnet sich das dazugehörige Substantiv durch seine Genusvarianz aus: „der/die/ das Fremde“ 11„Der Fremde“ ist der Unbekannte, dem man im eigenen und im fremden Raum gegenübertritt. Dabei existiert „der Fremde“ nicht per se, sondern wird zum Fremden gemacht; ein Vorgang, der in den Kultur- und Sozialwissenschaften als „Othering“ bezeichnet wird. „Die Fremde“ ist die Möglichkeit, die einem als irrelevant, als Option oder auch als unausweichliches Schicksal erscheint. „Das Fremde“ aber findet sich innerhalb des Eigenen. Es sind Dinge, Vorkommnisse und Anforderungen, die fremd erscheinen, die das Gewohnte infrage stellen und die nach einer Auseinandersetzung verlangen. Fremdsein bezeichnet keine Eigenschaft, sondern immer ein Verhältnis. Unmut über Fremde verweist nicht nur auf eine Krise in der Beziehung zum Fremden, sondern auch zu sich selbst.
Bildungsprojekte können anknüpfend an die Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte den Wandel des eigenen Heimatortes und der Heimatregion thematisieren, als Voraussetzung für die Überwindung von Entfremdungserfahrungen. So schaffen sie vor Ort Vertrauen durch Wertschätzung der Biografien und der lokalen Gegebenheiten.
Identität kann nicht als gegeben angenommen werden, sondern ist als Prozess zu verstehen, der ständig neu ausgehandelt wird .
Gemeinsames kulturelles Engagement kann identitätsstiftende Kraft entfalten. Viele Initiativen, die ich während meiner Feldstudien erkundete, haben das Ziel, der Entfremdung entgegenzuwirken und den Menschen Räume und Zeiten zu öffnen, in denen sie sich mit etwas identifizieren können. Denn, wie Jaeggi ausführt, verbinden wir uns in der Identifikation mit dem „Wohl oder Geschick“ von etwas oder jemandem. 12Identität kann nicht als gegeben angenommen werden, sondern ist als Prozess zu verstehen, der ständig neu ausgehandelt wird.
Daher sollten kulturelle Projekte die jeweiligen Identitätsdebatten vor Ort nicht ausblenden, weil sie oft die Ursache von Blockaden im kommunikativen Prozess sind. Vielmehr könnten sie fragen, wo und wozu Grenzziehungen stattfinden, bevor sie diese Grenzen überschreiten und den Menschen neue Perspektiven bieten können.
In vielen Städten und Dörfern, die ich während meiner Forschung kennenlernte, erklärten mir meine Gesprächspartner*innen, dass es heute weniger Zusammenhalt als früher gebe und es immer schwieriger werde, jüngere Menschen zu motivieren, sich am Kulturleben zu beteiligen. Dennoch erlebte ich sehr schöne Veranstaltungen und Feste, die generationsübergreifend organisiert werden. Auch lernte ich Vereine kennen, die keine Nachwuchssorgen haben, weil es durch starke Vorbilder gelingt, immer wieder Kinder und Jugendliche zu finden, die Verantwortung für ihren Heimatort übernehmen wollen. Wenn ich fragte, wie dies gelingt, hörte ich häufig, jeder wisse, was er zu tun habe. Es besteht also Routinewissen.
Dieses Wissen, mit dem wir auch unseren Alltag bestreiten, erleichtert Abläufe und regelt Verantwortlichkeiten. Es verweist auf die unproblematischen Seiten der Lebenswirklichkeit. 13Bildungsinitiativen sollten danach fragen, was vor Ort gut funktioniert und von den Erfahrungen und Netzwerken der Akteur*innen profitieren.
Dann lässt sich im nächsten Schritt erkunden, ob dieses Routinewissen auf weitere Aktivitäten übertragbar ist. Um Routinen und kulturelle Praxen zu erlernen, braucht es zuverlässige Angebote. Gerade angesichts der Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels sind Kontinuitäten notwendig. Es gilt, den einheimischen und ankommenden Menschen, die vor Ort an einer offenen und lebendigen Gesellschaft arbeiten, Wertschätzung entgegenzubringen und ihnen zuverlässig zur Seite zu stehen. Denn wir haben es in der Hand, welche Bedeutungen der Heimatbegriff in Zukunft transportieren wird.
Wir danken der kubi-Redaktion und Dr. Juliane Stückrad für die Nachdruckgenehmigung. Erstveröffentlicht in: kubi. Magazin für Kulturelle Bildung, Nr. 16 „Heimat – der rechte Begriff?“, Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, Berlin 2019, S. 6–11
Bausinger, Hermann: „Heimat und Identität“, in: Moosmann, Elisabeth (Hrsg.): Heimat. Sehnsucht nach Identität. Berlin 1980, S. 13–29, hier S. 13–22.
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