Zukünftig geht es um den konsequenten Transfer dieser Erfahrungen auf die Regelbetriebe, was wiederum vom bereits angesprochenen politischen Willen abhängig ist. In vielen Kommunen sowie auf Bundesebene sind notwendige interkulturelle/transkulturelle 2Öffnungsprozesse etwa im öffentlichen Dienst bereits im Gange. Hierbei handelt es sich um strukturelle Change-Management-Prozesse, die Jahre dauern werden.
Warum hinkt ausgerechnet unsere Kultur- und Bildungslandschaft hinsichtlich einer konsequenten Öffnung hinterher, obwohl es um den Zusammenhalt unserer nicht mehr umkehrbaren diversen Gesellschaft geht? Warum absolvieren Erzieher*innen, Lehrer*innen, Fachkräfte der kulturellen Jugendarbeit, Kulturpädagog*innen, Künstler*innen sowie das Lehrpersonal in Ausbildungsstätten des Kulturbetriebs nicht längst verpflichtende interkulturelle/transkulturelle Qualifizierungen und antirassistische Trainings? Warum wird die Erinnerungskultur der postmigrantischen Gesellschaft nicht in Schul- und Geschichtsbücher integriert? In den Kultur- und Bildungseinrichtungen unserer beneidenswert reichen Gesellschaft befinden sich doch die wertvollen Räume, in denen Verwurzelung außerhalb der Familie möglich ist. Warum liegen diese Chancen und Möglichkeiten brach?
Bereits als junge Erwachsene empfand ich ein Störgefühl, das stetig wuchs. Zahlreiche Erfahrungen während meiner Tätigkeit als Tanzvermittlerin und als darstellende Künstlerin führten zu der Erkenntnis, dass nicht nur in vielen Bereichen der kulturellen Jugendarbeit eine eurozentristische Perspektive dominierte .
Mein Aufwachsen war innerfamiliär von einer friedlichen Koexistenz westlicher und außereuropäischer Musik- und Tanztraditionen geprägt. Das schloss den Respekt vor Kulturschaffenden jeglicher Sparte und Couleur mit ein. Meine gesellschaftlichen Beobachtungen deckten sich damit leider nicht. Bereits als junge Erwachsene empfand ich ein Störgefühl, das stetig wuchs. Zahlreiche Erfahrungen während meiner Tätigkeit als Tanzvermittlerin und als darstellende Künstlerin führten zu der Erkenntnis, dass nicht nur in vielen Bereichen der kulturellen Jugendarbeit eine eurozentristische Perspektive dominierte. Weil dort beispielsweise sogar die ehrenamtlichen Strukturen weitestgehend herkunftsdeutsch besetzt warenund dementsprechend Multiperspektivität nicht möglich war. Auffallend war, dass gerade in der professionellen Kulturszene migrantisches kulturelles Erbe nicht mehr als eine Randerscheinung sein durfte. Erst seit einigen Jahren werden die Strukturen und Angebote der hochsubventionierten bundesdeutschen Kulturlandschaft und auch Bereiche der Kinder- und Jugendbildung vorsichtig infrage gestellt: Weil vieles nicht ausreichend genutzt wird bzw. zu wenige Menschen erreicht werden und gleichzeitig auch aus den Steuergeldern derjenigen Menschen finanziert wird, die von Kindesbeinen an exkludiert werden. Stattdessen reproduziert sich weiterhin eine herkunftsdeutsche bildungsbürgerliche und finanzstarke Elite. Wenn ich heute auf Kulturproduzent*innen mit migrantischen Wurzeln treffe, lautet die einstimmige These: Die Begrenzung auf herkunftsdeutsche und westliche Narrative privilegierter Akteur*innen stand früher wie heute für die aktive Sicherung von Macht und Privilegien. Dabei könnte die quantitative Erweiterung des Kanons einen qualitativen Zuwachs an Programm, Personal und auch Publikum bedeuten und damit die TOP-Themen im aktuellen kulturpolitischen Diskurs mitbearbeiten. Doch für die derzeitigen Kulturakteur*innen bedeutet jede Verschiebung des inhaltlichen Fokus (auch von Förderkriterien) einen möglichen Verlust eigener Privilegien. Wenn die Kultur eine relevante Stimme für einen offeneren Heimatbegriff gegen die Vereinnahmung von rechts werden soll, wird es allerhöchste Zeit, dass sich die Kulturbourgeoisie dieses Landes ihren eigenen Vorurteilen, Rassismen und Ansprüchen auf Deutungshoheit stellt. Denn Heimat und Kultur sind nicht erst seit dem Einzug der Rechtspopulisten in die Landtage und den Bundestag umkämpft. Für „uns“, die Nicht-Herkunftsdeutschen und eben auch die nicht privilegierten Herkunftsdeutschen waren sie auch vorher nicht frei verfügbar. Für einen beständigen Zusammenhalt wären wir dies aber unserer Heimat, die wir lieben, schuldig.
Flusser, Vilem: Heimat und Heimatlosigkeit. 1 CD. Suppose Verlag: Köln 1999.
Kermani, Navid: Von Heimat zu Heimat. Zitiert nach dem Beitrag von Ruth Bender vom 26.01.2018, s.a.: http://www.kn-online.de/Nachrichten/Kultur/Schriftsteller-Navid-Kermani-im-Gespraech[31.03.2020].
Koppetsch, Cornelia: „In Deutschland daheim, in der Welt zu Hause? Alte Privilegien und neue Spaltungen“, in: Soziopolis vom 22.12.2017. Online: https://soziopolis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/in-deutschland-daheim-in-der-welt-zu-hause/[10.02.2020].
1Vor der Landtagswahl 2000 polarisierte Ministerpräsident Jürgen Rüttgers mit dem Wahlkampf-Ruf „Kinder statt Inder an die Computer“ der die Haltung der CDU zugunsten der Förderung von heranwachsenden (deutschen) Kindern statt zugewanderten Ausländern verdeutlichen sollte. Auslöser war, dass ausländische IT-Fachkräfte – insbesondere aus Indien – mittels der von der rot-grünen Bundesregierung eingeführten Greencard nach Deutschland eingeladen werden sollten. Dies wurde von den Republikanern dann mit der Phrase „Kinder statt Inder“ im Landtagswahlkampf 2000 übernommen.
2Der Begriff der Transkulturalität nach Prof. Wolfgang Welsch geht im Gegensatz zur Interkulturalität und Multikulturalität davon aus, dass Kulturen nicht homogene, klar voneinander abgrenzbare Einheiten sind, sondern dass sie – besonders infolge der Globalisierung – zunehmend vernetzt und vermischt werden. Die Transkulturalität umschreibt genau diesen Aspekt der Entwicklung von klar abgrenzbaren Einzelkulturen hin zu einer Globalkultur.
Heimat als Gefühls- und Praxisraum. Ethnographische Zugänge
Dr. Juliane Stückrad
Im Gespräch mit dem Kirchenvorsteher eines Dorfes bei Leipzig erfuhr ich, wie wichtig es der Gemeinde ist, dass Konfirmationen der Jugendlichen aus dem Dorf in der eigenen und nicht in der Nachbarkirche stattfinden. Er begründete diese Forderung an den Pfarrer mit: „Heimatgefühl. Das kann man nicht ersetzen.“ 1
Jenseits aller Debatten um Deutungen, Missbrauch und Gefahren des facettenreichen Begriffs Heimat, 2spielt dieser im Alltagswissen vieler Menschen eine wichtige Rolle. Bei meinen ethnografischen Erkundungen zur Bedeutung von Kirche und zu Stimmungslagen in ländlichen Räumen begegnen mir häufig Heimatvorstellungen. Und als Zugang zu den Forschungsfeldern eignen sich Heimatmuseen und Heimatvereine hervorragend, um einen Einblick in die lokalen Geschichtsschreibungen und Identitätskonstruktionen zu erhalten. Über dieses alltägliche Heimatverständnis kann es gelingen, die Lebenswirklichkeiten der Menschen zu ergründen und zu verstehen. Das könnte die Basis für einen gesellschaftlichen Diskurs darüber sein, wie eine Heimat zu gestalten ist, die sich angstfrei öffnet und nicht argwöhnisch abschottet. Es geht dabei nicht um einen wehmütigen Blick auf die „gute alte Heimat“, die in der Erinnerung immer viel schöner ist, als sie es jemals war, sondern um eine auf die Zukunft ausgerichtete Perspektive, wie man ausgehend vom Lokalen eine Welt erschafft, in der jede*r heimisch werden kann. Begriffsgeschichtlich betrachtet entwickelte sich Heimat vom Rechtsraum zum Gefühlsraum. Heimat beschrieb ursprünglich das Haus, den Hof und das direkt erfahrbare dörfliche Umfeld, den Ort, der das Überleben sicherte. 3Heimat war Besitz an Grund und Boden. Wer kein Haus und Hof besaß, war in den alten Rechtsvorstellungen heimatlos. Die mobilere bürgerliche Bevölkerung verknüpfte seit dem 19. Jahrhundert neue Vorstellungen mit Heimat und reicherte sie mit Gefühlen an, die die Unsicherheiten des eigenen Lebens kompensierten. Heimat wuchs so über den Hof, das Elternhaus, die lokale Gemeinschaft hinaus und wurde über die Landschaft gelegt. Sie verwandelte sich in der Heimatbewegung, in der Heimatkunst oder im Heimatschutz in ein „Kontrastprogramm“ zur industrialisierten Großstadt. Heimat wurde nun vorwiegend mit bäuerlichen Lebenswelten in Verbindung gebracht und transportierte Bilder, die bis heute nachwirken. Aus diesen Ideen von Heimat entstanden Reformprogramme. Diese Entwicklung konnte bereits aggressive Züge annehmen und verlief parallel zur nationalistischen und bald auch rassistischen Aufladung des Heimatbewusstseins, die uns den unbefangenen Umgang mit Heimat erschweren. Mittlerweile findet der Begriff Heimat Verwendung für einen Identifikationsraum, der in seinen Ausmaßen variabel bleibt. Heimat kann als ein „Ort tiefsten Vertrauens“ wahrgenommen werden. 4Bormann deutet die Verknüpfung materieller, historischer und sozialer Gegebenheiten des Raumes als Notwendigkeit „einer kulturellen Produktion von Lokalität, im Sinne von raum-zeitlichem Verortet-Sein.“ 5Das „raum-zeitliche Verortet-sein“ erfolgt bei vielen Menschen, denen ich bei der Feldforschung begegne, in überschaubareren Teilräumen, dem direkten Wohnort und dem sozialen Nahbereich, die Danielzyk und Krüger (1994: 115) als „Geborgenheitsraum“ beschreiben. Ausgehend von den lokalen Bedingungen beurteilen die Menschen die Qualität ihrer Lebenswelt. 6Heimat als „Geborgenheitsraum“ oder „Satisfaktionsraum“ 7wird als Utopie von der Realität regelmäßig herausgefordert und gerade dann zum Thema, denn sie ist weder statisch noch krisensicher.
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