Wohl also dem Menschen, der diese innere Seite seines Lebens, die mit seinen Gefühlen und Empfindungen zu tun hat, in seinen Glauben mit einbezieht und sie nicht davon abspaltet. Es ist nicht verkehrt, die Seele und ihre Regungen in den Reifungsprozess des Glaubens mit einzubeziehen, im Gegenteil. Wir haben vielmehr dort ein Problem, wo wir es nicht tun. Mit Gott leben bedeutet, unser ganzes Menschsein vor Gott einzuschließen und auf Gott zu beziehen, nicht nur einen Teil davon, den wir für geistlicher betrachten als den anderen.
Welche Bereiche betrachten manche Christen als unwichtig für ihren Glauben? Wo neigen vielleicht auch wir selbst dazu, wichtige Teile unseres Personseins zu vernachlässigen, wenn wir über Glaubensreife nachdenken?
Unsere körperlichen Bedürfnisse
Zum Beispiel unser Bedürfnis auszuruhen. Die Notwendigkeit, uns richtig zu ernähren. Das Bedürfnis nach körperlicher Betätigung. Aber auch unsere sexuellen Regungen und Wünsche. Es galt in vielen christlichen Kreisen lange als verpönt und sündig, sich als Christ mit diesen Seiten seines Menschseins näher auseinanderzusetzen.
Unser Bedürfnis nach herzlichen Beziehungen
Das drückt sich dann so aus, dass man die Notwendigkeit betont, sich allein an Gott und nicht an Menschen zu orientieren. Um nicht von Menschen abhängig zu sein, geht man engen Freundschaften aus dem Weg und ignoriert den Zusammenhang zwischen gesunden, verbindlichen Beziehungen und Glaubensreife.
Die Entwicklung unserer intellektuellen Fähigkeiten
Auch die umgekehrte Betonung und Abtrennung gibt es. Hier wird alles, was mit dem Verstand zu tun hat, als Hindernis für die spirituelle Entwicklung angesehen. Ich erinnere mich an Begegnungen mit ernsthaften Christen, die mir weismachen wollten, meine denkerische Auseinandersetzung mit dem Glauben hindere Gott daran, mich mit seiner Kraft berühren zu können. So nach dem Motto: »Je weniger du denkst, umso größere Wunder tut Gott an dir.« Hier wird der Verstand als Gottes gute Gabe von der Spiritualität getrennt und als deren Gegner betrachtet.
Unsere emotionalen, seelischen Bedürfnisse
Hier geht es darum, wahrnehmen zu können, wie ich mich fühle, was mich schmerzt, was mir guttut. Eine verbreitete Überzeugung lautet: »Gefühle täuschen uns und taugen nichts, wenn es um den Glauben geht.« Deshalb werden Gefühle aus dem Glaubensleben verdrängt, obwohl sie uns etwas Wichtiges zu sagen hätten. Unsere emotionalen Empfindungen verraten uns nämlich, wie wir Dinge, andere Menschen, Gott, das Leben und uns selbst sehen. Erst wenn wir wahrnehmen, was in unserer Gefühlswelt abläuft, und es wagen, dies zu artikulieren, erkennen wir, wo wir im Glauben wirklich stehen, wo wir Veränderung und Erneuerung im Innersten unseres Menschseins brauchen. Gefühle sind die Sprache des Herzens. Sie offenbaren die (manchmal unschöne) Wahrheit, die in unserem Innersten existiert. Es ist nie gut, vor dieser Wahrheit, die sich uns zeigt, die Augen zu verschließen. Denn nur wo wir zulassen, was in uns ist, können wir frei werden.
Gerade Christen in Führungsaufgaben neigen dazu, ihre Gefühle nicht genügend ernst zu nehmen. Sie gehen ihrem Ärger, Verstimmungen, Gefühlsschwankungen und eigentlichen Motiven nicht auf den Grund und bringen sie nicht in Beziehung zu ihrem Glauben. Sie sehen und verstehen den Zusammenhang nicht, der zwischen genau diesen Gefühlen und ihrem spirituellen Wachstumsprozess besteht.
Ich selbst habe diesen Zusammenhang auch lange nicht wahrgenommen. Ich habe die Signale übersehen, die mir deutlich machen wollten, dass ich mich aufgrund ungesunder Motive ständig unter Druck setzte und überforderte. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass vieles, was ich scheinbar für Gott tat, in Wirklichkeit Ausdruck meiner Sucht nach Aufmerksamkeit und Anerkennung war. Meine Überzeugung war: Wenn ich außerordentlich viel leiste und dabei eindeutige Erfolgserlebnisse verbuchen kann, dann finde ich diese Anerkennung. Wenn nicht, dann bleibt die Anerkennung aus und ich fühle mich nutz- und wertlos. Solange ich genügend Arbeit hatte und bei meinen Mitmenschen beliebt war, fühlte ich mich sehr beflügelt und gesegnet. Weil ich diesen »Segen« so sehr brauchte, lud ich mir ein Übermaß an Arbeit auf. Denn damit stieg die Chance, wiederum Bestätigung zu erhalten. Doch dieser Weg erwies sich als Falle, denn die übermäßige Arbeit führte zur physischen und psychischen Erschöpfung. Es ist unglaublich anstrengend, sich Wertschätzung und Daseinsberechtigung auf diese Weise erarbeiten zu müssen!
Wenn wir unsere Seele und was sich in ihr abspielt als nicht relevant betrachten und von unserem Reifeprozess als Christinnen und Christen ausklammern, erreichen wir genau das Gegenteil. Wir bleiben stehen. Wir mögen zwar »richtig« glauben und uns so verhalten, wie man es allgemein von einem glaubenden Menschen erwartet. In bestimmten Schlüsselmomenten und -bereichen unseres Lebens bleiben wir jedoch in unreifen und ungesunden Verhaltensmustern hängen. Dies wiederum belastet unsere Beziehungen zu anderen Menschen und zu uns selbst.
Das kann sich in Reaktionsmustern wie diesen manifestieren:
• Wenn ein emotional unreifer Mensch Enttäuschungen erlebt, kann es leicht geschehen, dass er in ein tiefes Loch aus Selbstanklage und Depression fällt.
• Wenn ein emotional unreifer Mensch erlebt, dass jemand anderer Meinung ist und das auch deutlich ausdrückt, dann kann ihn das tief verletzen. Er kann dann so sehr beleidigt sein, dass er tage- und wochenlang vor sich hin schmollt. Oder er reagiert darauf mit heftigen Wutausbrüchen und Anschuldigungen.
• Wenn einem emotional unreifen Menschen Fehler passieren, kann das in seinem Leben zu einer tiefen Selbstablehnung führen. Es kann das Gefühl entstehen, er sei nichts wert.
• Wenn ein unreifer Mensch nicht die Beachtung findet, die er sich in ganz bestimmten Momenten wünscht, kann er als Folge davon von einer tiefen inneren Traurigkeit befallen werden. Deshalb zieht er sich zurück und kapselt sich ab.
Man kann nach rein äußeren, verhaltensbezogenen Kriterien sehr erwachsen und reif erscheinen. Solange aber unsere Gefühlswelt und die Regungen in unserer Seele vom Einfluss des Evangeliums nicht berührt und verändert werden, bleiben wir letztlich unreife Menschen.
Folgende Situationen prägen das Leben und den Alltag vieler christlicher Gemeinden:
• Ein Pastor leitet eine Gemeinde und predigt seit Jahren Gottes Wort. Gleichzeitig ist er aber unbelehrbar, unsicher und verteidigt sich vehement, wenn jemand anderer Meinung ist als er.
• Ein treues Gemeindeglied betet und fastet einen halben Tag pro Woche. Gleichzeitig kritisiert diese Person dauernd andere und klagt über zu wenig Hingabe und Tiefe in ihrem Leben.
• Eine andere Person ist dafür bekannt, dass sie viele Bibelstellen und geistliche Liedtexte auswendig kennt. Mit dem Ärger und den Depressionen in ihrem Leben hat sie sich aber noch nie auseinandergesetzt. »Der Herr weiß schon, wozu diese dunklen Täler in meinem Leben gut sind«, ist ihr einziger Kommentar dazu.
• Ein Mitarbeiter investiert viel Zeit in einen wichtigen Dienst in der Gemeinde. Gleichzeitig weicht er jedem Konflikt aus, so wie er es in seiner Ursprungsfamilie gelernt hat. Schon dort ging man allen Schwierigkeiten aus dem Weg.
Was ich sagen will, ist: Wenn wir gesunde Menschen sein wollen, wenn wir uns nach spiritueller Reife sehnen, dann dürfen wir unser äußeres Glaubensleben nicht von unseren inneren, emotionalen Empfindungen abspalten. Was sich in unserer Seele regt, seien es angenehme oder peinliche Regungen, muss einen direkten Bezug zu unserer Gottesbeziehung bekommen. Echter Glaube trennt unser Leben nicht in die Bereiche »geistlich« (= sehr bedeutsam für Christen) und »seelisch« (= unwichtig und hinderlich für uns Christen). Gesunder Glaube integriert alle Bestandteile unseres Lebens in unsere Beziehung mit Gott.
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