• Auswahl und Anwendung diagnostischer Methoden
• Im nächsten Schritt wird der Lehrende versuchen, seine Hypothesen zu überprüfen, indem er geeignete diagnostische Verfahren auswählt und sie anwendet. So könnte der Lehrer in obigem Fall die Rechtschreibfehler seines Schülers systematisch nach einzelnen Kategorien ordnen und auf diese Weise sehen, ob dieser Schüler im Laufe eines Diktates gehäuft gegen einzelne Rechtschreibregeln verstößt oder in welchem Ausmaß ihm typische Fehler unterlaufen, die auf mangelhafte auditive Verarbeitung hinweisen.
• Diagnostische Informationen
Bestätigen die diagnostischen Informationen die Vermutungen des Lehrenden nicht, findet der Lehrer in unserem Beispiel keine Hinweise auf eine mangelnde Regelkenntnis oder die angenommenen Schwächen in der auditiven Informationsverarbeitung, muss er neue Hypothesen über den möglichen Bedingungshintergrund für die vielen Fehler im Diktat suchen und diese dann wiederum überprüfen. Besagter Lehrer wird vielleicht nun Vermutungen darüber anstellen, ob die Lernsituation in seiner Klasse für den betreffenden Schüler ungünstig ist. Schenkt er ihm genügend Aufmerksamkeit und Zuwendung? Traut er ihm unter Umständen zu wenig zu und gibt vorschnell Unterstützung, sodass der Schüler zu selten Lernerfolge erlebt, die er sich selbst und seinem Können zuschreiben kann? Mithilfe einer gezielten Unterrichtsbeobachtung durch einen Kollegen oder eine Kollegin könnte der Lehrer versuchen, diese Hypothesen zu prüfen, um so zu einem veränderten Lehrangebot zu kommen.
• Zweite Hypothesenbildung
• Erhärtet sich jedoch der ursprüngliche Verdacht über den Bedingungshintergrund der Lernhemmung, wird der Lehrende auf der Basis seines pädagogisch-didaktischen Fachwissens Hypothesen über nächste Entwicklungsschritte und entsprechende Fördermaßnahmen entwerfen. Er wird sich überlegen, in welchen weiteren Lernschritten und mit welchem neuen Lehrangebot er seinem Schüler beim Überwinden der gefundenen Lernhemmung helfen kann.
• Lehrziel und Lehrangebot
Setzt der Lehrende sein Lehrangebot in die Tat um, kann er beobachten, inwieweit der Lernende auf dieses Angebot zugreift, mit dem veränderten Lehrangebot seine Lernhemmungen überwindet und z. B. im Prozess des Schreibenlernens fortschreitet. Der Lehrende erfährt auf diese Weise, ob seine Hypothesen, das neue Lehrangebot betreffend, hilfreich und damit richtig sind. Gleichzeitig beinhaltet diese Erfahrung eine Reihe neuer diagnostischer Informationen über den Lernenden und seine Art zu lernen, die er bei der weiteren Gestaltung seines Lehrangebotes, beim Festlegen nächster Entwicklungs- und Lernschritte sowie bei der Auswahl neuer Hilfen berücksichtigen sollte.
Werden die gesteckten Lern- oder Entwicklungsziele mit den gewählten Hilfen jedoch nicht erreicht, müssen die diagnostischen Informationen noch einmal dahingehend analysiert werden, ob sich nicht aus ihnen heraus weitere Förderangebote entwickeln lassen. Unter Umständen wird es vielleicht sogar erforderlich, die Lernhemmung in der spezifischen Lernsituation erneut zu betrachten, um zu neuen ersten Hypothesen zu gelangen und auf dieser Basis den gesamten Prozess erneut zu durchlaufen.
Zu einem vergleichbaren Prozessmodell gelangen Arnold und Kretschmann (2002), in dem sie sich an der geübten Praxis in Förderzentren orientieren. In der Eingangsdiagnose wird der Ist-Zustand mit dem Lernstand, den Kompetenzen, den Emotionen, dem Verhalten, den Risikofaktoren und Ressourcen des Kindes erhoben ebenso wie die Entwicklungsbedingungen, die durch das Umfeld gegeben sind. All diese Informationen fließen in ein sonderpädagogisches Gutachten ein, in dem die Befunde gewichtet und interpretiert werden, in dem Richt- und Grobziele der Förderung skizziert werden und das Kind nach dem Vergleich alternativer pädagogischer Settings dem geeignetsten zugewiesen wird. Im nächsten Schritt erfolgt nun die Förderdiagnose im engeren Sinne, wo ein detaillierter Förderplan mit Feinzielen und Fördermethoden sowie einem bestimmten zeitlichen Ablauf, mit Klärung der pädagogisch-therapeutischen Zuständigkeiten und gegebenenfalls auch mit dem Einholen von Unterstützung durch andere Dienste und Institutionen erstellt wird. Die dritte Phase der Prozessdiagnosen beantwortet im Sinne einer formativen Diagnostik die Frage, welche spezifischen Lernfortschritte und Lernschwierigkeiten im Förderprozess auftreten. Evaluierungs- und Fortschreibungsdiagnosen bilden die vierte und letzte Phase im Verlaufsmodell von Arnold und Kretschmann (2002), die der bewertenden Überprüfung von Förderverlauf und Fördererfolg durch den Vergleich der geplanten Maßnahmen und erwarteten Veränderungen mit dem tatsächlichen Verlauf und den tatsächlich bewirkten Fördereffekten dienen, um den Förderplan fortschreiben oder aktualisieren zu können.
Uhlemann (2011) stellt mit der Förderverlaufsdokumentation (FVD) ein Instrument zur kontinuierlichen Planung und Erfassung der Wirksamkeit pädagogisch-therapeutischer Maßnahmen vor, das inhaltlich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ausgerichtet ist (
Kap. I.7), sich sehr stark an der Vorstellung einer Förderdiagnostik, die als hypothesengeleiteter Prozess Diagnose und Förderung konsequent miteinander verbindet, orientiert und als Grundlage für das schulische Standortgespräch dient (
Kap. I.6.1.4).
4.2.4 Vorgeordnete Theorien und Wertvorstellungen mitdenken
Die Notwendigkeit und Bedeutung vorgeordneter Theorien kam bereits im vorangegangenen Kapitel zur Sprache, soll hier jedoch noch einmal explizit aufgegriffen und thematisiert werden. Die Beschreibung der Förderdiagnostik als hypothesengeleiteter Prozess macht deutlich, dass sie notwendigerweise eingebettet sein muss in pädagogische, didaktische oder psychologische Theorien. Nur auf der Grundlage eines derartigen Fachwissens lassen sich an den entsprechenden Stellen des förderdiagnostischen Prozesses die erforderlichen Hypothesen gewinnen. Darüber hinaus ist Diagnostik allgemein ein interpretierendes Vorgehen, das an verschiedenen Stellen auf vorgeordnete Theorien zurückgreifen muss.
Bereits beim Erkennen und Aufnehmen von Daten muss bedacht werden, dass diese Daten dem menschlichen Verhalten nicht als solche anhaften. Der Diagnostiker findet die Daten nicht einfach als gegeben vor, um sie dann nur noch einsammeln zu müssen. Bereits die Datenaufnahme ist, wie Schlee (1985a) richtig feststellt, ein aktives Gestalten und Konstruieren. Diagnostische Daten treten als solche erst unter bestimmten Fragestellungen und Perspektiven in Erscheinung. Je nach Fragerichtung, Sicht- und Herangehensweise ergeben sich unterschiedliche Daten. Die lapidare Aussage, dass Intelligenz das ist, was durch den Intelligenztest gemessen wird, ist so betrachtet durchaus richtig und nachvollziehbar. Da Intelligenz ein hypothetisches Konstrukt ist, liegt der Konstruktion eines jeden Intelligenztests eine spezifische Vorstellung, ein Modell von Intelligenz zugrunde und dieses Intelligenzmodell bestimmt, welche Verhaltensstichproben als repräsentativ betrachtet und durch den Test erhoben werden.
In den abgenommenen Daten an sich steckt noch keine bedeutsame Aussage. Die Bedeutung ist den Daten nicht inhärent, sondern sie bedürfen der Interpretation, die ihrerseits ebenfalls theoretisch fundiert sein muss, will man Beliebigkeit vermeiden. Die Minimalinterpretation, dass ein Intelligenztestwert altersgemäß, über- oder unterdurchschnittlich ist, lässt sich nur unter Rückgriff auf die klassische Testtheorie und die mit ihrer Hilfe berechneten Vergleichsnormen vornehmen.
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