Jedenfalls: Nach all den schlimmen Erlebnissen von damals hatte sie die Nase voll von dieser Vergangenheit und besonders auch von Jeremys Filmplänen, die irgendwie mit alledem zusammenhingen. Damals hatte er ihr gesagt, die Sache sei nun erledigt – aber warum ließ er dann sein Drehbuch nicht einfach in der Schublade ruhen? Wollte er das Ganze erneut aufwühlen, sich in seinem uralten Jammer suhlen? Das hielt sie nicht aus. Vielleicht sollte er mal eine Psychotherapie machen. Aber wer weiß, welche Ideen ihm so ein Therapeut in den Kopf setzen würde. Pah, Therapie. Wenn sie wenigstens Kinder hätten, dann hätte Cathy etwas, was ihrem Leben Inhalt geben könnte. Aber selbst das brachte er nicht zustande. Okay, sie beide nicht. Aber mit einem anderen Partner hätte es vielleicht geklappt.
Bestimmt hätte sie sich eher mit Jeremys Filmprojekt versöhnen können, wenn der ursprünglich geplante Produzent Kim Park den Film wirklich hätte machen können. Ein intelligenter, athletischer, gut aussehender Koreaner, der einst beinahe Cathys Geliebter geworden wäre. Aber Kim lag im Koma, seit er zusammen mit Jeremy das Schiff der Geiselnehmer geentert hatte, um Cathy zu befreien, und ihn beim Kampf mit ihrem wahnsinnigen Entführer John Huang eine Kugel ins Hirn getroffen hatte. Irgendwo in einer Klinik in Shanghai stand ein Bett, in dem blicklos an die Decke starrte, was einst Kim Park gewesen war – angeschlossen an zahllose Maschinen wie totes Gemüse.
Sie schaltete den elektrischen Ofen an, in dem ein rotes Glühen aus Plastik den Eindruck erwecken sollte, es handele sich um echtes Feuer – typisch britischer Kitsch –, dann ging sie an ihren Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Sie schenkte sich ein Glas Chardonnay aus ihrem Geburtsland Kalifornien ein und scrollte durch ihre Mails. Das meiste war lästiger Müll, der es irgendwie geschafft hatte, ihren Spamfilter auszutricksen. Doch plötzlich leuchteten Cathys Augen auf. Eine Mail von Coco, der Modejournalistin und Cathys bester Freundin, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Hi Cathy, was machst du so in London? Hier in Shanghai ist gerade herrliches Frühlingswetter und jede Menge los – Partys, Einladungen, Modeschauen, man kommt aus dem Feiern gar nicht mehr raus. Aber bestimmt ist dein Leben mit Jeremy ähnlich aufregend. Wann kommt denn jetzt der Klapperstorch, hast lange nichts mehr von dir hören lassen! Weißt du schon, was es ist? Vielleicht kannst du ja vorher nochmal nach Shanghai kommen, würde mich jedenfalls freuen, dich endlich mal wieder in die Arme zu schließen!
Ich drücke dich schon mal ganz fest, deine Coco
Berlin, Hotel Grand Hyatt, Potsdamer Platz
„Na dann: Cheers!“ Jeremy hielt dem kleinen Koreaner auffordernd sein Glas entgegen. Der schielte an ihm vorbei und verzog die Lippen zum Anflug eines Lächelns, das aber, wie immer wenn J. D. einmal lächelte, eher gezwungen als herzlich wirkte. Dann wandte er sich mit einer kleinen Verbeugung von Jeremy ab, legte die flach ausgestreckte rechte Hand unter sein Glas und wölbte die linke um es herum und nahm einen Schluck. Wieder fiel Jeremy die eigenartige, ironisch wirkende Art auf, wie J.D. die althergebrachten koreanischen Gepflogenheiten beachtete, die mittlerweile auch in Korea selbst mehr und mehr in Vergessenheit gerieten und daher im Ausland umso deplatzierter wirkten: Man schaut sich beim Prosten traditionell nicht in die Augen und zum Trinken dreht sich der Jüngere vom Älteren weg.
Jeremy nahm einen großen Schluck aus seinem hohen Glas. Er war ziemlich durstig, und so hatte er sich zunächst ein bayrisches Hefeweizenbier bestellt, bis er sich einen Überblick über die etwa 250 Whiskys der Bar verschaffen konnte.
„Ah, das war gut“, sagte er, als er das Glas absetzte. „Im Allgemeinen finde ich das deutsche Bier ja überschätzt. Da heißt es deutsche Bierkultur und so weiter, und dann bekommt man nur diese immer gleiche Plörre einer Handvoll Großkonzerne vorgesetzt. Da lob ich mir die Vielfalt in England, wo es noch im kleinsten Pub zwanzig Sorten gibt. Hier gibt es ja noch nicht einmal Real Ales ! Pah, Bierkultur! Aber Weizenbier, zugegeben, das können sie.“
„Tja, da geht es mir ähnlich. Auch wenn ich am liebsten Soju oder Cheongju trinke, die koreanischen Reisgetränke, muss ich zugeben, dass der japanische ‚Kubota Manju‘-Sake hier auch ganz manierlich ist. Und obwohl man Reiswein dazu sagt, ist Sake im Grunde eher eine Art starkes Bier, wussten Sie das? Ich meine, viele Biere werden aus Reis gebraut und Sake eben auch, nur ist die Fermentation anders und der Sake alkoholischer. Wir trinken also irgendwie beide Bier.“
J. D. schien die Feststellung, dass beide irgendwie das Gleiche tranken, wichtig zu sein. „Ja gut“, sagte Jeremy, „dann werde ich mir noch einen Scotch dazubestellen – auch Bier. Nur eben destilliert.“
J. D., der eifrig nickte, schien die Ironie der Antwort entgangen zu sein. „Dann bestellen Sie mir doch einen mit, mein sehr verehrter Herr Jeremy Gouldens, Sie sind ja so ein großer Single-Malt-Experte.“
Jeremy war so unbescheiden, nicht zu widersprechen, und orderte für sich einen 21-jährigen Caol Ila, während er für J. D., den er mit den Rauch- und Torfaromen der Hebrideninsel Islay nicht überfordern wollte, einen alten Glenlivet aus dem Sherryfass wählte.
„Jetzt erzählen Sie mir doch etwas über die Dame, derentwegen wir hier sitzen und das Spesenbudget unseres Films strapazieren.“
J.D. nickte wieder. „Sie werden sie gleich kennenlernen. Kurze Geschichte: Sie hat vor etwa zehn Tagen bei mir in Hongkong vorgesprochen; momentan arbeitslose Nachwuchsschauspielerin, die nach einer Rolle sucht. Hatte den Tipp von einer Freundin, die sich schon um die Rolle bemüht hatte, aber aufgrund Ihrer, mein sehr verehrter Herr Jeremy Gouldens, besonderen, äh ... Vorgaben abgelehnt wurde. Hatte bei ihr das Drehbuch gesehen und war ganz begeistert. Ihre Referenzen waren allerdings etwas dürftig – eine Handvoll zweifelhafte Kleinstrollen in Billigproduktionen und Werbefilmchen. Auf ihr Drängen hin habe ich sie trotzdem Probe sprechen lassen, hübsch und selbstbewusst ist sie ja. Und da muss ich sagen: Schauspielen kann die Frau, alle Achtung! Das Drehbuch schien sie schon halb auswendig zu können. Vielleicht trotzdem etwas zu kindfraumäßig für die Rolle: Nach meiner bescheidenen Ansicht muss da eine richtige Powerfrau her. Immerhin, jetzt ist sie extra nach Berlin gekommen, und ich dachte, Sie sollten sie sich einmal ansehen.“
„Powerfrau?“, fragte Jeremy nachdenklich zurück. Kindfrau schien ihm da vielversprechender.
„Na klar, was denn sonst, all die Actionszenen.“ J. D. klopfte mit seinem leeren Sakeglas dreimal kräftig auf den Tisch. „Powerfrau!“ Dabei wirkte er irgendwie fordernd und zappelig.
Jeremy erinnerte die Geste daran, dass es nach den verwirrenden traditionellen Trinksitten Koreas als unhöflich gilt, sich nachzuschenken, weil man erst dem anderen nachschenkt, dessen Glas aber leer sein muss. Galt das bei traditionsbewussten Leuten wie J. D. dann auch für die Bestellungen in Bars? Hieß das nicht umgekehrt, dass es unhöflich war, den anderen durch ein nicht geleertes Glas warten zu lassen, bis er endlich bestellen konnte? Jeremy nahm einen mächtigen, leerenden Zug aus seinem Weizenglas. Ah, verflucht, die deutsche Kohlensäure! Er versuchte sein Aufstoßen unhörbar zu machen. Irgendeinen Höflichkeitsreflex musste er in der Tat ausgelöst haben, denn kaum hatte er das Glas abgesetzt, war J. D. aufgesprungen, um Nachschub zu holen. „Nochmal zwei solche internationale Bierchen“, sagte er mehr zu sich selbst, ehe Jeremy widersprechen konnte.
Während sich J. D. um neue Getränke bemühte, dachte Jeremy zum wiederholten Mal über die Besetzung seiner weiblichen Hauptrolle nach. Es stimmte, keine der bisherigen Anwärterinnen hatte ihn zu überzeugen vermocht. An jeder hatte er etwas auszusetzen gehabt, konnte genau begründen, warum es so jedenfalls nicht ging. Was nicht ging, wusste er jeweils genau zu benennen. Aber wenn J. D. dann fragte, wie sie stattdessen sein sollte, vermochte Jeremy keine konkrete Antwort zu geben. Offenbar wusste er es selbst nicht so recht. Jeremy nahm sich vor, in Zukunft mehr Kompromisse einzugehen, um den Film nicht weiter aufzuhalten. Aber – Powerfrau? Nein, eher etwas Zartes, Verletzliches. Unschuldiges. Ein geheimnisvoll dunkles japanisches Vögelchen, das hilflos im Netz flattert und dann zitternd in der Hand des Helden liegt, nachdem er es gerettet hat.
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