„Wo haben Sie denn gesteckt, ich habe Sie schon überall gesucht!“, fuhr der kleine Koreaner fort und runzelte dabei die Stirn, was spielerisch wirkte, ohne dass Jeremy sich da hätte sicher sein können.
Jeremy verkniff es sich, „Das Gleiche wollte ich Sie gerade fragen“ zu sagen, auch wenn es stimmte. Er hatte seit zwanzig Minuten mit seinen unübersehbaren 1,85 Metern hier am Empfang gestanden und die Eingangstür im Blick gehabt, und das konnte sich J. D. auch denken. Dem Koreaner war es offenbar lieber, eine Lüge in den Raum zu werfen, als sich für seine Unpünktlichkeit zu entschuldigen. Jeremy hakte die Sache ab, indem er sie unter dem Oberbegriff „Mentalitätsunterschiede der Völker“ katalogisierte – was diesen Punkt betraf, hatte er während seiner Aufenthalte in Ostasien so viele Erfahrungen gemacht, dass ihn nichts mehr wunderte.
Statt eine bloßstellend korrigierende Antwort zu geben, ging Jeremy lieber zur Gegenfrage über: „Wo haben Sie denn die koreanische Schauspielerin gelassen, mit der Sie mich heute unbedingt bekanntmachen wollten? Sie ist meine letzte Hoffnung, dass mein bisher ergebnisloser Berlinale-Besuch doch noch zu einem Erfolg wird.“
„Keine Sorge, die wird uns schon nicht im Stich lassen“, winkte J. D. ab. „Und selbst wenn – im Herbst ist wieder das Filmfestival in Pjöngjang. Da sollten wir auch hingehen. Dort können wir vielleicht erfolgreicher Kontakte knüpfen als hier auf der Berlinale. Sie wissen, Nordkorea ist ein filmbegeistertes Land, dessen Machthaber frühzeitig erkannt haben, welch wertvolles Propagandamittel der Film ist.“
„Im Herbst? Pjöngjang?“ Typisch für die jähen Sprünge, die J.D. machen konnte! Ganz ernst gemeint war das wohl nicht. J. D. hatte sicher seine Hintergedanken, warum er das Thema ansprach. „Bis dahin ist es aber noch ein ganzes Weilchen hin! Außerdem wird Ihnen als Südkoreaner in Nordkorea sowieso kein Visum erteilt.“
„Ach was, jemand wie ich kommt überall hin. Wenn ein bisschen Geld und Beziehungen im Spiel sind ... Und es könnte sich für uns auszahlen, auch da ein wenig die Fühler auszustrecken.“
Jeremy seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass J. D. von dieser abstrusen Pjöngjang-Geschichte anfing. Jeremy hatte J.D. Lee vor einigen Wochen in Hongkong kennengelernt, wo er auf der Suche nach einem gut vernetzten Insider aus der ostasiatischen Filmwelt gewesen war, der ihm bei der Realisierung seines Filmprojekts helfen konnte. Er brauchte einen „Fixer“, der alles zentral arrangierte, und J. D. schien ihm der richtige Mann zu sein. Um ihn zu engagieren, hatte Jeremy zunächst einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen und dabei den Mund vielleicht ein wenig zu voll genommen. Ambitioniertes internationales Filmprojekt, Schauplätze in Japan und China, Starbesetzung, Anspruch, Spannung und Hollywood-Qualität. Viel Arbeit warte auf J. D., aber auch viel Geld. Da hatte der rührige Koreaner zugeschlagen und sogleich allerlei Hebel in Bewegung gesetzt.
Der brisante politische Inhalt des Drehbuchs, das sich mit der Aufarbeitung der japanischen Kriegsverbrechen in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigte, hatte allerdings zur Folge, das viele der von J. D. geöffneten Türen sogleich wieder knallend zugeschlagen wurden. In Japan, so wurde schnell klar, war der Film nicht zu machen, und auch China zeigte sich zögerlich. Nachdem J. D. auch in seinem Heimatland Südkorea auf Schwierigkeiten gestoßen war, hatte er das Projekt ungefragt auch den zuständigen Stellen im Norden des geteilten Landes vorgelegt. Von dort wurde ihm signalisiert, dass man sich eine Realisierung, eventuell als international finanzierte Koproduktion, unter bestimmten Bedingungen vorstellen könne. Mit J. D.s Vorstoß vertraut gemacht, zeigte sich Jeremy entsetzt. Das vielleicht brutalste Regime der Welt an seinem Film profitieren und sein Drehbuch womöglich in ein antijapanisches Propagandamachwerk umfunktionieren lassen? Er hatte geglaubt, J.D., der in der Erfüllung seiner Aufgaben wenig Skrupel kannte, unmissverständlich klargemacht zu haben, dass etwas Derartiges mit ihm nicht zu machen war. „Ich habe Ihnen doch mehrmals gesagt, dass ich diese Nordkorea-Pläne nicht weiterverfolgen möchte“, betonte er.
J. D. verzog sein Gesicht. „Aber es sind nicht diese Nordkorea-Pläne! – Es sind jetzt andere.“
„Inwiefern denn? Dann schießen Sie mal los.“ Jeremys Stimme klang eher lahm als begeistert. Doch als Geschäftsführer der Gao-Feng-Stiftung, die sich unter dem Motto „Verarbeiten statt Vergessen“ die Versöhnung zwischen Japan, China und Korea zum Ziel gesetzt hatte und die über ein in Planung befindliches „Freundschaftszentrum“ womöglich bald schon auch in Nordkorea aktiv werden sollte, konnte er es sich nicht leisten, das Thema einfach zu übergehen. Zudem hatte er mittlerweile auch sozusagen literarische Interessen an dem in mehrfacher Hinsicht verschlossensten Land der Welt.
J. D. fuhr fort: „Sie haben bei unserer letzten Begegnung den Plan erwähnt, die für den Film so wichtigen historischen Rückblenden zu den Kriegsverbrechen Japans in China und Korea besser als Trickfilmsequenzen zu drehen, um sie nicht gar so brutal wirken zu lassen. Haben Sie schon von den SEK-Trickfilmstudios in Pjöngjang gehört?“ Jeremy schüttelte den Kopf.
„Aber Produktionen wie König der Löwen und Pocahontas sind Ihnen ein Begriff? Und all diese Zeichentrickserien, wie sie hier in Deutschland auf Kika rauf- und runterlaufen. Briefe von Felix? , Lauras Stern? “ J. D. ließ keine Gelegenheit aus zu zeigen, dass er sich in allen Bereichen des Business bestens auskannte.
„Sehe ich aus, als würde ich mir das deutsche Kinderprogramm ansehen? Aber was soll das alles mit Nordkorea zu tun haben?“
„Die SEK-Trickfilmstudios sind einer der wenigen legalen Bereiche der nordkoreanischen Wirtschaft, die richtig florieren. Wie Sie wissen, ist die Produktion von Animationsfilmen sehr arbeitsaufwendig. Und in Nordkorea kostet die Arbeitskraft fast nichts. Daher werden viele internationale Trickfilmproduktionen gegen harte Devisen in Nordkorea gezeichnet. Das zahlt sich für beide Seiten aus.“
Davon hatte Jeremy noch nichts gewusst. Die Vorstellung, dass abgehärmt-graue Nordkoreaner in freudlosen Räumen für einen Hungerlohn lustige bunte Bilder für die westlichen Traumfabriken zeichneten, die den verwöhnten mitteleuropäischen Kindern abends beim Chipsknabbern über die Glotze gaukelten, um ihnen vor Augen zu führen, wie gut und heil die Welt ist, erschien Jeremy grausig grotesk.
„Immerhin sind die Produktionsbedingungen in Nordkorea unglaublich günstig. Angeblich bekommt so ein nordkoreanischer Animationszeichner umgerechnet nur etwa drei Dollar im Monat. Das ist weltweit konkurrenzlos. Wir könnten in diesem Punkt viel Geld sparen und müssten dann in anderen Bereichen weniger knapsen.“
„Aber gibt es da nicht so etwas wie ein Embargo?“
„Ach was, Embargo. Wenn alle Engländer so zimperlich sind, verstehe ich nicht, wie ihr je euer Empire habt aufbauen können.“
„Trotzdem – eine Kooperation mit diesem heillos korrupten und bankrotten Land, wo alle gehirngewaschen sind und ständig der Strom ausfällt? Stelle ich mir sehr problematisch vor! Denken Sie nur an die Sache mit dem gewaltigen Ryugyong-Hotel in Pjöngjang, das seit Jahrzehnten im Bau ist und nun lange Jahre als Investitionsruine dastand, bis es die Kempinski-Gruppe 2013 eröffnen wollte. Aber die Kempinski-Leute verzweifelten an den Nordkoreanern und der ganze Deal ist geplatzt. Jetzt wird gemunkelt, die Nordkoreaner seien dabei, einen Teil des Gebäudes für diverse andere Zwecke einzurichten, aber das Ganze scheint mir sehr chaotisch zu sein.“
In diesem Bereich kannte sich Jeremy aus; ja, er konnte förmlich ein Lied davon singen. In einem Stockwerk des Hotels sollte nämlich das sogenannte „Freundschaftszentrum“ zur Annäherung und Versöhnung der beiden Teile des gespaltenen Landes entstehen, das von Jeremys Gao-Feng-Stiftung gefördert wurde. Der zugehörige Briefwechsel füllte schon viele Ordner, doch nach wie vor gab es unzählige offene Fragen und Unstimmigkeiten, die im Wesentlichen daraus resultierten, dass sich die Nordkoreaner von nichts und niemand in die Karten schauen lassen wollten und Jeremy keinen richtigen Ansprechpartner hatte, da die ohnehin schon verwirrenden Namen des vorgesehenen Leitungspersonals ständig wechselten. Trotzdem hatte er großes Interesse daran, das „Freundschaftszentrum“ im höchsten Gebäude der koreanischen Halbinsel Wirklichkeit werden zu lassen, jenem auch Hotel of Doom genannten Monstrum. Jeremy hatte Fotos gesehen: Wie ein riesiger schwarzer Vogel hockte das überdimensionierte Gebäude im Zentrum Pjöngjangs und wirkte in der Tat mehr wie ein düsterer Turm des Verhängnisses als wie der monumentale Prunkbau zum Preis der Größe Nordkoreas und seines gütigen Staatsgründers Kim Il Sung, als der es geplant gewesen war.
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