Als 1987 mit dem Bau begonnen wurde, hatte das Gebäude binnen zwei Jahren zum höchsten Hotel der Welt werden sollen. Bei Einstellung der Arbeiten 1992 war immerhin die Endhöhe von 330 Metern erreicht. Doch bis die Baumaßnahmen mehr als fünfzehn Jahre später wiederaufgenommen wurden, waren andere natürlich schneller gewesen. Jeremy musste an das Shanghai World Financial Center denken, ein Gebäude, das für sein Leben eine schicksalhafte Bedeutung angenommen hatte. Dort hatte man ähnliche Rekordpläne gehegt und nach Bauunterbrechungen den Kürzeren gezogen, am Ende war dabei jedoch eine lebendig genutzte architektonische Meisterleistung herausgekommen, während das nordkoreanische Pendant ein stummes Mahnmal geblieben war – und damit eine sinnlose Ruine und gigantische Geldverschwendung in einem Land, in dem sich ein Großteil der Bevölkerung noch immer von Gras und Rinde ernähren musste.
„Ich glaube nicht, dass man den größenwahnsinnigen Protzbau des Ryugyong-Hotels mit der Arbeit der SEK-Studios vergleichen kann“, riss ihn J. D.s Stimme aus seinen Überlegungen. „Dort hat man sich gezielt auf die Arbeit als Zulieferer eingerichtet. Da geht es um Devisenbeschaffung, nicht um Propaganda. Ich finde, wir sollten auf alle Fälle mal hinfliegen und uns das anschauen. Und Sie können gleich vor Ort für Ihr Romanprojekt recherchieren.“
Letzteres klang allerdings verlockend. Vor einigen Jahren, als Jeremy seine Anwaltstätigkeit für längere Zeit hingeschmissen hatte und auf einer Jacht durch die Südsee schipperte, um sich in der Nachfolge Jack Londons als Schriftsteller zu erproben, hatte er nicht nur an mehreren Roman- und Filmprojekten über Japan und dessen blutige Geschichte gearbeitet (aus denen dann das Drehbuch zu Yellow Submarine hervorging), sondern auch an einem weiteren Filmplot, das die Verwicklungen des geteilten Korea ins Zentrum stellte: Spionage, Entführungen, kriegerisches Kettenrasseln. Irgendwann hatte er den Entwurf, wie so viele andere auch, unfertig liegengelassen. Als nun der junge Diktator Kim Jong Un für eine neue Eskalation sorgte und dem Globus in Erinnerung rief, welches Pulverfass der ostasiatische Raum nach wie vor ist, und zur gleichen Zeit die Umsetzung seiner Filmpläne ins Stocken geriet, hatte sich Jeremy an den Korea-Drehbuchentwurf erinnert und beschlossen, ihn zu einem Roman umzuarbeiten. Dazu kam, dass Jeremy durch seine Stiftungstätigkeit und seine Zusammenarbeit mit der auf Ostasien spezialisierten Zürcher Century Bank immer wieder auch mit Korea und seiner fortdauernden Teilung konfrontiert wurde. In einigen Details war der alte Entwurf inzwischen zwar von der Geschichte überholt, aber von der Grundanlage her erschien er ihm aktueller denn je, und so hatte er sich in den Pausen, die ihm seine sonstigen Tätigkeiten ließen, erneut an die Arbeit gemacht, die gleichwohl noch nicht weit gediehen war. Ein Besuch des sozusagen letzten Landes hinter dem Eisernen Vorhang könnte seiner Arbeit vielleicht den entscheidenden Schub geben.
„Nun gut, ich glaube, Sie haben mich überzeugt. Wenn Sie Nordkorea besuchen wollen, komme ich mit. Ich wollte ohnehin zur Einweihung des Freundschaftszentrums nach Pjöngjang fliegen – wenn es jemals so weit kommt. Aber anrüchige Deals sind mit mir nicht zu machen. Kontakte knüpfen dagegen kann nicht schaden. Dann schauen wir uns im September eben dieses absurde Filmfestival an.“
„Nein, so lange will ich wirklich nicht warten, der Film ist ja jetzt schon in Verzug. Das organisiere ich uns gleich in den nächsten zwei Wochen. Auch wenn mich, unabhängig davon, das Festival natürlich reizen würde. Immerhin gilt der junge Oberste Führer als ein großer Filmfan, der auf James-Bond-Filme steht und die Sophie Marceau aus Die Welt ist nicht genug attraktiv findet. Vater Kim Jong Il hat das nordkoreanische Standardwerk über Filmkunst verfasst und sogar südkoreanische Filmstars in den Norden verschleppen lassen. Die Entführung des Filmtraumpaars Shin Sang Ok und Choi Eun Hee – er Regisseur, sie Schauspielerin –, die während ihres neunjährigen Zwangsaufenthalts in Nordkorea sieben Filme drehen mussten, darunter Pulgasari , die nordkoreanische Version von Godzilla , hat in den Achtzigern für Schlagzeilen gesorgt.“
Jeremy staunte immer wieder, mit welcher Leichtigkeit J. D. sein enzyklopädisches Filmwissen abspulen konnte. Die Geschichte von den Schauspielerentführungen kannte er allerdings schon aus seinen eigenen Recherchen: wahrlich der Stoff für einen Thriller.
Jeremy bedauerte, dass seine vielfältigen beruflichen Aktivitäten ihm nur wenig Zeit ließen, sich seinen literarischen Plänen zu widmen. Zum einen war da seine fortgesetzte Anwaltstätigkeit: Auch wenn er nun nicht mehr als Partner fungierte, so war er doch als „Of Counsel“ – also in beratender Funktion – weiterhin für seine alte Sozietät Lexman & Lexman tätig, die nun im 310 Meter hohen Büroturm „The Shard“ in London residierte. Daneben war er zudem ein gern gesehener Keynote-Speaker, der auf Konferenzen zum Thema Ostasien Vorträge hielt. In dieser Funktion war er gerade im Moment sehr gefragt. Schließlich war Ostasien ein Thema von ungebrochener Aktualität, und die Spannungen im fernöstlichen Bereich wuchsen. Viele Entwicklungen, vor denen Jeremy schon seit Jahren warnte, hatten sich unvermindert fortgesetzt und leider schien nun vieles so zu kommen, wie er es prophezeit hatte. Die Spannung zwischen den Koreas hatten sich verschärft, das Säbelrasseln zwischen China und Japan war selbst im fernen Europa unüberhörbar geworden und manche sahen aufgrund der Ähnlichkeiten zu 1914 gar den Dritten Weltkrieg heraufziehen.
Vor diesem Hintergrund wurde Jeremys dritte Hauptbeschäftigung, die Tätigkeit für die Gao-Feng-Stiftung mit Sitz im schweizerischen Zug und Büros in Zürich, Kyoto, Shanghai und London immer wichtiger. Schließlich war es Zweck der Stiftung, die unbewältigte Vergangenheit des 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten und durch „Verarbeiten statt Vergessen“ zu einer Versöhnung von Tätern und Opfern von damals, von Japanern, Chinesen und Koreanern, beizutragen. Mit fünf Milliarden Dollar Kapital von ihrem Gründer, dem reichlich extravaganten greisen Chinesen Gao Feng, großzügig ausgestattet, widmete sich die Stiftung verschiedensten Projekten, wie etwa der Einrichtung von Informationszentren und Begegnungsstätten, darunter eben auch das geplante Freundschaftszentrum in Pjöngjang.
Als Geschäftsführer und Stellvertreter des Stiftungsvorsitzenden Gao Feng, der nach wie vor in Shanghai lebte, war Jeremy das Gesicht der Stiftung nach außen sowie oberste Kontrollinstanz nach innen und hielt sich deswegen häufig in der Schweiz auf. Einmal im Jahr, Ende Februar, flog er nach Shanghai, um Gao Feng den gemäß den strengen Satzungsauflagen der Stiftung jährlich anzufertigenden Ethikbericht vorzulegen. Schon bald sollte es wieder so weit sein. Daher würde es für Jeremy nach Verlassen der Berlinale nur für eine Stippvisite bei seiner Frau Cathy in London reichen. Ihre Ehe kam bei all den zu absolvierenden Terminen eindeutig zu kurz. Doch selbst für ein schlechtes Gewissen fehlte Jeremy meist die Zeit.
„Wo wir gerade beim Thema koreanischer Film und koreanische Schauspielerinnen sind – haben wir uns nicht verabredet, weil Sie mir eine solche vorstellen wollten?“, kam Jeremy auf den Ausgangspunkt ihres Gesprächs zurück. „Wo bleibt Ihr angekündigtes Wunderkind?“
J. D. Lee schlug sich mit der flachen Hand auf die gleichfalls recht flache Stirn. „Die hätte ich fast vergessen. Ja, wo bleibt sie ... Aber nur ruhig. Ich habe mich mit ihr für 21 Uhr in der Vox Bar verabredet. Da ist noch viel Zeit. Doch ich werde durstig. Ringsum Menschen mit Gläsern in der Hand, und meine Kehle ist trocken. In der Vox Bar haben sie immerhin eine anständige Sake-Auswahl, wenn auch keinen koreanischen Soju, wie ich zu meinem Bedauern festgestellt habe. Und es gibt über zweihundert Sorten Whisky.“ Letzteres überzeugte Jeremy. „Was stehen wir hier dann noch hier herum?“
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