Entschlossen riss die kleine, schwarze Gestalt das Steuer herum, zog einen scharfen Bogen durch die beckenartige Erweiterung der Spree hinter der Brücke, lenkte das Schiff bedenklich nahe an der Ufermauer wieder auf die Brückenbögen zu. Dann sprang sie aufs Sonnendeck hinaus. In der linken Hand hielt sie den ovalen Gegenstand. Im letzten Moment bevor das Schiff wieder unter die Brückenbögen glitt, holte sie aus und warf ihn mit athletischer Kraft und geschulter Präzision in einem hohen Bogen hinüber.
Augenblicke später ein donnerndes Geräusch. Vom Botschaftsgebäude her erhebt sich ein blitzender Feuerball und dicker Rauch.
Schon ist das Schiff unter der Brücke hindurch. Die schwarze Gestalt wendet sich um, zieht ein Messer, Blut frisch an der Klinge. In wenigen Sekunden muss das Schiff mit der Ufermauer kollidieren. Der Zeitpunkt dieses Zusammenstoßes sollte später auf exakt 13.02 Uhr datiert werden. Mit dem Blutmesser in der Hand tritt die schwarze Gestalt an das Mädchen heran, das nichts von alledem begriffen hat.
Nur, dass etwas Schreckliches geschehen ist. Wo ist Papi?
Das Mädchen schluchzt. Der schwarze Teufel kommt näher, hebt das verschmierte Messer. Das Mädchen starrt dem schwarze Teufel in die Augen. Aus Kleinemädchenaugen, in denen endlich die ersten Tränen perlen. Die schwarze Gestalt zögert kurz, flucht unverständlich und springt über die Reling hinab in die eiskalte Spree.
Erst jetzt beginnt das Mädchen brüllend zu weinen.
Erster Teil
Der Film
Einen Tag zuvor, Berlin, Hotel Grand Hyatt
„Ach, entschuldigen Sie, wie ungeschickt von mir.“
Der großgewachsene Mann mit den graublauen Augen hatte, während er sich suchend im Raum umsah, durch eine allzu heftige Ellbogenbewegung aus Versehen eine neben ihm vorbeieilende Gestalt gerammt, die ihrerseits seine Bewegung nicht bemerkt hatte, da sie gerade angestrengt damit beschäftigt war, bei ihrer erhöhten Geschwindigkeit nichts von dem randvollen Champagnerkelch in ihrer rechten Hand zu verschütten – eine Bemühung, die jene ruckartige Ellenbogenbewegung nun zum Scheitern verurteilt hatte.
„Tut mir sehr leid, ich hab Sie nicht gesehen.“ Mit verkniffener Miene blickte er ins zornige Gesicht einer hochgewachsenen Blondine mit schulterlangem Haar und einer Nase, die ihn, wiewohl im Grunde nicht unhübsch, eigentümlich an ein Ferkel erinnerte. Mit Erleichterung nahm er zur Kenntnis, dass er nur einige Tropfen über den Ausschnitt ihres schulterfreien Glitzerkleides verschüttet hatte, das ihren üppigen Busen ein wenig zu sehr zur Geltung brachte.
Das nun nicht mehr ganz randvolle Champagnerglas fest in der Hand, funkelte ihn die große Blonde zornig an. Dann rümpfte sie verächtlich die Ferkelnase, schimpfte etwas auf Deutsch, was der kantige Brite nicht recht verstand – „Schieb ab, Trottel“? – und verschwand hinter ihren drei schick gekleideten männlichen Begleitern, die sich nun dicht um sie scharten, um ähnliche Kollisionen fortan tunlichst zu vermeiden. Dann war sie auch schon davongerauscht. Die Dame hatte es offensichtlich eilig, sich in eine der geschlossenen Gesellschaften in den verschiedenen Konferenzräumen des ausgebuchten Hotels zu begeben.
Jeremy Gouldens war sich sicher, die nicht mehr ganz jugendfrische Blondine schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Aber woher kannte er sie nur? Eine typisch deutsche Walküre – vielleicht Sängerin in Bayreuth? Nein, nein. Er fuhr durch sein dünner werdendes, graumeliertes Haar, kratzte sich. Dann, als er begriff, schlug er sich mit der Hand an die Stirn. Nebenan im Theater am Potsdamer Platz feierte die Berlinale ihren letzten Abend, und er war im Hotel nun wirklich nicht der Einzige, der etwas mit der Filmindustrie zu tun hatte – vermutlich war es heute sogar schwer, überhaupt jemanden zu finden, der nicht auf die eine oder andere Weise mit der Medienwelt zu tun hatte. Ein Großteil der nationalen und auch ein Teil der internationalen Filmprominenz war in Berlin zu Gast – selbst George Clooney sollte gesichtet worden sein –, und natürlich konnte Jeremy die große Blonde nur irgendwo auf der Leinwand oder dem Bildschirm gesehen haben. Schließlich hatte er sich in den letzten Jahren, seit er häufig in der Schweiz war und viel mit Deutschen zu tun hatte, jede Menge deutsche Filme angesehen, schon um seine eingerosteten Sprachkenntnisse aufzubessern. Ach, kam ihm jetzt, war das nicht vielleicht diese Schauspielerin gewesen, die immer die tapfere Heldin ist und am Ende die Welt oder zumindest irgendwelche verfolgten Kinder, Flüchtlinge, Wale rettet? Wahrscheinlich hatte die bedeutende Dame seinen Rempler für die plumpe Anmache eines Autogrammjägers gehalten.
Wie auch immer, Jeremy hatte für große, blonde, europäische Schauspielerinnen momentan keinen Bedarf, selbst wenn sie erfahrene Weltenretterinnen waren. Er war auf der Suche nach einer eher zierlichen, schwarzhaarigen Schauspielerin mit asiatischen Zügen. Mit genau so einer sollte er heute nämlich verabredet sein.
Er sah auf die Uhr. Galten Koreaner nicht als besonders pünktlich? Ihm selbst war jedenfalls eingeschärft worden, bei Geschäftsterminen mit Koreanern immer pünktlich zu erscheinen. Nun gut, ein wirklich offizielles Treffen war der Termin heute auch wieder nicht.
Erneut ließ er seinen Blick über das in der Lobby versammelte internationale Publikum schweifen. Die Frauen schienen einander an Putz und Kleiderpracht übertreffen zu wollen; daneben wirkten die Herren in ihren dunklen Anzügen, an denen die Krawatte meist das Bunteste war, eher farblos und unauffällig. Seltsam, dachte Jeremy, dass es bei den Menschen in Sachen Schmuck und Schönheit genau umgekehrt ist wie bei Pfauen, Paradiesvögeln, Zierfischen oder fast überall sonst in der Tierwelt, wo das Männchen stets das auffälligere, buntere Wesen ist. Aber, Jeremy sei ehrlich, ist es im Grunde nicht gut so? Seitlich in der Tizian Lounge drängte sich das feiernde Publikum aus mehr oder weniger prominenten Gästen und sonstigen Medienmenschen, vermischt mit allerlei Schaulustigen beim „Celebrity spotting“. Durch die Kollision mit der Weltenretter-Walküre neugierig gemacht, vertiefte er sich in die wechselnden Bilder und Szenen vor seinen Augen und meinte nun, weitere vertraute Gesichter ausmachen zu können. Fast hatte er das Gefühl, sich selbst mitten in einem Film zu befinden. Als Statist? Oder würde nun gleich jemand mit einer Frage an ihn herantreten und die Kamera genau auf ihn zoomen?
Ach ja, der Film. Sein Film. Seit langem lag das Drehbuch zu seinem halbautobiografischen Filmprojekt Yellow Submarine in Jeremys Schublade – sowie in einigen anderen Schubladen von Produzenten, Agenten, Regisseuren, Schauspielern –, aber der Beginn der Dreharbeiten verzögerte sich weiter. Jeremy war eigens nach Berlin geflogen, in der Hoffnung, beim Filmfestival der Sache vielleicht den entscheidenden Ruck zu geben, aber nun war der letzte Berlinale-Abend gekommen und es hatte sich kein Erfolg eingestellt. Jeremy wusste, dass auch er an den Verzögerungen seinen Anteil hatte; vor allem mit seiner Pingeligkeit in gewissen Besetzungsfragen hatte er sich selbst Stolpersteine in den Weg gelegt.
„Ah, der sehr verehrte Herr Jeremy Gouldens, da sind Sie ja endlich!“ Der kleine dickliche Asiate mit seiner schrillen Krawatte legte die Hände an die Seite und machte eine betont tiefe Verbeugung. Jeremy wusste, dass J. D. Lee, der lange in Amerika gelebt hatte und nun seit Jahren in Hongkong residierte, äußerlich zwar viel Wert auf die traditionellen koreanischen Höflichkeitsformen und -formeln zu legen schien, sie in Wirklichkeit aber nur eher ironisch zitierte – vergleichbar einem älteren Wiener, der einer steifen Hamburger Dame scherzhaft einen Handkuss gibt. J. D. Lee war einer der albernsten Menschen, denen Jeremy je begegnet war, und doch tat er alles, was er machte, so lächerlich es auch sein mochte, im vollsten Ernst und ohne jemals zu lachen, so dass sich Jeremy manchmal fragte, ob sich J.D. dieser Lächerlichkeit überhaupt bewusst war. Trotzdem war er in seiner Arbeit ein hervorragender Mann; ein quirliger Mensch mit jeder Menge Kontakten, einer unermüdlichen Energie und einem sprühenden Ideenreichtum. An J. D. lag es jedenfalls nicht, dass die Umsetzung des Filmprojekts ins Stocken geraten war.
Читать дальше