Perspektiven auf Gesellschaft und Politik
Herausgegeben von Thomas Hauser, Prof. Dr. Tanjev Schultz, Prof. Dr. Guido Spars und Prof. Dr. Daniela Winkler
Bisher in der Reihe erschienen:
Tanjev Schultz (Hrsg.):
Was darf man sagen? Meinungsfreiheit im Zeitalter des Populismus; 2020, 176 Seiten, € 17, ISBN: 978-3-17-038304-3
Stefan Iskan (Hrsg.):
Corona in Deutschland. Die Folgen für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik; 2020, 174 Seiten, € 18, ISBN: 978-3-17-039608-1
Tanjev Schultz (Hrsg.)
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-040064-1
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Einführung
Auf dem rechten Auge blind? Rechtsextremismus in Deutschland
Tanjev Schultz
Der Rechtsextremismus in Deutschland ist unübersehbar. Er zeigt sich im Internet und auf den Straßen, in der Politik und den Parlamenten. Er wütet in Online-Kommentaren, lärmt auf Kundgebungen und Rechtsrock-Konzerten. Er steckt sogar in den Sicherheitsbehörden, in der Polizei und der Bundeswehr, in deren Reihen zuletzt immer mehr Beamte und Soldaten mit radikalen Meinungen und radikalem Verhalten auffielen.
Der Rechtsextremismus in Deutschland ist unübersehbar. Er hat allein seit der Wiedervereinigung mindestens 187 Menschen das Leben gekostet – getötet von Neonazis, militanten Rechten, braunen Terroristen. So haben es Recherchen der ZEIT und des Tagesspiegel ergeben. Die Amadeu-Antonio-Stiftung geht sogar von mehr als 200 Toten aus. In der offiziellen Statistik, die bei vielen Taten einen rechtsextremen Hintergrund nicht erkennen will, sind es 109 Tote.
Der Rechtsextremismus in Deutschland ist unübersehbar. Die Liste der Städte, bei deren Nennung viele Menschen auch an die Ausschreitungen, Überfälle und Morde denken müssen, die dort verübt wurden, wird immer länger: Halle und Hanau. Freital und Chemnitz. Kassel und München. Köln und Altena. Oder einige Jahre zuvor, nach dem Fall der Mauer: Rostock und Hoyerswerda. Mölln und Solingen. Und dann sind da noch die Übergriffe, Drohungen und Schmierereien, die tagein, tagaus, landauf, landab den Alltag prägen und für viele Menschen unerträglich machen. Die Hetze im Netz, das Hakenkreuz auf dem Friedhof, der Brandsatz im Wohnheim.
Der Rechtsextremismus in Deutschland ist unübersehbar, gerade deshalb muss man sich fragen, ob die Gesellschaft und der Staat auf dem rechten Auge blind sind. Wie kann es sein, dass ausgerechnet in der Bundesrepublik, die sich der Verantwortung, die aus der deutschen Geschichte erwächst, stellen will, immer wieder Rechtsextremisten triumphieren und so viel Leid anrichten können? Wie ist es möglich, dass von Neonazis eine so große Gefahr ausgeht – in einem Land, das den Nationalsozialismus ein für alle Mal überwinden wollte?
Deutschland ist jedoch den Nationalsozialismus nie ganz losgeworden. Wo er zu verschwinden schien, bildeten sich neue Gruppierungen, die den Rassismus und den Rechtsextremismus einerseits konservierten, andererseits in die veränderte, moderne Gesellschaft transportierten. Rechtsextremisten treten längst nicht mehr im alten Gewand auf, bedienen sich längst nicht mehr nur der alten Symbole. Es gibt braune Hipster, die ohne Stiefel und Glatzen auftreten. Es gibt rechte Rocker. Gutbürgerlich wirkende Lehrer und Verleger. Der Rechtsextremismus kennt heute viele Formen und Gestalten.
Bei allem Wandel und aller Differenzierung – die Kontinuität rechter Gewalt nach 1945 ist frappierend. Diese ungebrochene Geschichte wurde lange Zeit kaum gesehen. Auf Bluttaten von Neonazis reagierten Politiker jedes Mal mit einer Überraschung, die ihrerseits erstaunlich war. Als sei etwas Undenkbares geschehen, obwohl sich die Taten auf grausam routinierte Weise durch die Geschichte des Landes ziehen. Die Mechanismen der Verdrängung und Verharmlosung sind der Gesellschaft tief eingeschrieben, entgegen ihrem Selbstbild.
Deutschland wäre so gerne die Nation, die als Vorbild strahlt, weil sie aus ihrer Geschichte gelernt hat. Sie wäre so gerne das geliebte Land, in dem »die Welt zu Gast bei Freunden« ist, wie es vielsagend hieß während der Fußball-WM im Jahr 2006, dem eingekauften »Sommermärchen«. Kein Mensch müsse sich vor diesem Deutschland fürchten, sagte der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Er sei sehr erleichtert, dass »die Rechtsextremisten gar keine Chance haben, beachtet zu werden«.
Ja, tatsächlich – die Neonazis hat man nicht beachtet. Jahrzehntelang wurde so getan, als ginge es nur um ein paar alte Unverbesserliche und ein paar junge Ungehobelte, die manchmal im Bierrausch eher aus Blödheit denn aus politischem Antrieb einem Ausländer einen Haken verpassten. Als würde sich ihr Extremismus schon von allein auswachsen. In Wahrheit haben Rechtsextremisten eine Blutspur durch das Land gezogen – so breit und rot, dass man den Gedanken daran immer mit im Kopf haben könnte, wenn irgendwo die Fahne der Bundesrepublik weht.
Wenige Wochen, bevor Schäuble zur WM das so gern gehörte Märchen vom rundum friedlichen Land erzählte, ermordete der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU), wie wir heute wissen, zwei Menschen. Im April 2006 erschossen die Terroristen zunächst Mehmet Kubaşık in Dortmund und dann Halit Yozgat in Kassel. Dass Neonazis dahintersteckten, erschien den Behörden jahrelang unvorstellbar.
Für die vielen Menschen, die stets damit rechnen müssen, mindestens beschimpft und angepöbelt zu werden, ist die Bundesrepublik keineswegs das »friedliche, freundliche Land«, als das es ein Bundesanwalt im Plädoyer des NSU-Prozesses beschrieb. Für sie waren immer schon Angriffe vorstellbar und allzu oft Realität, die von anderen nicht so ernst genommen wurden.
Es war ein langer Weg, bis die Erinnerung an den historischen Nationalsozialismus den hohen Grad an Selbstverständlichkeit und moralischer Verpflichtung erreichte, den die Repräsentanten der Bundesrepublik und viele Bürgerinnen und Bürger heute empfinden. Nicht nur die ständigen Angriffe der AfD auf die Erinnerungskultur zeigen jedoch, wie fragil dieser historische Fortschritt ist. Es war und bleibt ein Ringen gegen die Kräfte des Verdrängens.
Die Liberalisierung des Landes hat seit den 1960er Jahren vieles verändert, im Umgang des Staates mit seiner Vergangenheit und auch in der inneren Verfassung der Behörden. Aber das »friedliche, freundliche« Land ist noch immer ein Land, in dem Asylbewerber Angst haben müssen vor Brandsätzen, die in ihre Wohnungen geschleudert werden. Ein Land, in dem sich Juden in der Synagoge verbarrikadieren müssen. Ein Land, in dem eine Terrorgruppe im Jahr 2003 das Jüdische Gemeindezentrum in München in die Luft sprengen wollte. Ein Land, in dem der CDU-Politiker Walter Lübcke ermordet wurde, weil er geflüchteten Menschen Hilfe angeboten hatte.
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