An der Universität trifft das Proletenkind Wulf Skaun aus dem Nest im hohen Norden auf Dozenten wie Hans Poerschke, die gerade erst anfangen, die Leipziger Journalistik zu erfinden, und so allenfalls menschlich ein Vorbild sein können, und auf Söhne und Töchter von Prominenten. »Die Tochter von Hermann Axen war da, Kati. Von Markus Wolf war die Tatjana da und von Günther Kleiber sogar Sohn und Schwiegertochter, glaube ich. Michael Sindermann. Vorher Thomas Brasch. Das waren jetzt nur Sprösslinge von ZK- und Politbüro-Mitgliedern. Von anderen Eliten weiß ich gar nicht mehr alle. Daniela Dahn war mit mir in einer Seminargruppe«. Dahn ist vier Jahre jünger als Wulf Skaun. Karl-Heinz Gerstner, ihr Vater, hat jeden Sonntag im Radio gesprochen. Die Lage der Wirtschaft. Seine Stimme hat noch jeder im Ohr, der nicht nur Westsender gehört hat. Wer älter ist, kann sich vielleicht sogar noch an sein Gesicht erinnern. Prisma , ein Fernsehmagazin. Gerstner, im Hauptberuf Wirtschaftschef bei der Berliner Zeitung , war dort von 1965 bis 1978 Moderator. 66Sibylle Boden, seine Frau, die Mutter von Daniela Dahn, gründete 1956 die Modezeitschrift Sibylle .
Wulf Skaun haben all die großen Namen nicht gestört, im Gegenteil. »Wir fühlten uns sogar ein bisschen aufgewertet. Wenn die auch alle Journalisten werden wollten, dann konnte das so verkehrt nicht sein«. Zu seiner Seminargruppe gehörte neben Daniela Dahn auch Wolfgang Tiedke, Sohn von Kurt Tiedke, der seit 1967 im ZK der SED war und 1983 Rektor der Parteihochschule Karl Marx werden wird. Skaun und Tiedke: Als ich 1988 als Student nach Leipzig kam, war das ein Markenzeichen. Der eine Wissenschaftler durch und durch und der andere so eloquent und charismatisch, wie wir selbst gern werden wollten. Von den Kämpfen und Zweifeln auf dem Weg dorthin konnten wir nichts wissen. Für ihre Dissertation haben Skaun und Tiedke etwas gemacht, was es in der DDR gar nicht geben durfte – eine Befragung zur Mediennutzung und damit auch zum Westradio in Lößnig, in dem Leipziger Stadtteil, in dem jetzt das Wohnheim der Journalistikstudenten stand. Gar nicht so wenige Befragte haben hinterher bei der Stasi gefragt, wer das denn genehmigt habe. 67»Vater Tiedke«, sagt Wulf Skaun.
Noch wichtiger wird diese schützende Hand bei der Habilitation, einer »Kollektivarbeit«, die »als Spitzenprojekt der Sektion im Zentralen Plan der Gesellschaftswissenschaften« stand, dann aber schwer unter Beschuss geriet, als die Medienlenker in Berlin »schwarz auf weiß« lesen konnten, »dass die Zeitungen nicht viel mit der Realität zu tun hatten. Nur sozialistische Siege und kaum Kritik, Mängel und Probleme. Vorher konnte man das wissen oder ahnen, jetzt aber kam niemand mehr an unseren Ergebnissen vorbei«. 68Wulf Skaun ist an dem Streit um diese Studie krank geworden, und Wolfgang Tiedke ging freiwillig für drei Jahre zur Leipziger Volkszeitung . Ein teurer Sieg, zumal der Forschungsbericht im Panzerschrank verschwand und die Autoren »vor den Chefredakteuren wie Hochstapler dastanden. Wir hatten ja eine ehrliche Untersuchung versprochen und durften jetzt keinen Klartext reden«. 69
Wolfgang Tiedke ist am 15. November 1989 als Chefredakteur zur Leipziger Volkszeitung gegangen, gerufen von einer Redaktion, die nicht mehr so weitermachen konnte wie bisher und sich an diesen immer noch jungen und jungenhaften Wissenschaftler erinnerte, der vor ein paar Jahren auch hier gegen den Strich gebürstet hatte. Tiedke selbst war sich 20 Jahre später sicher, dass er sonst »irgendwann« Direktor der Sektion Journalistik geworden wäre. »Das hätte ich als angemessen empfunden«. Er weiß, dass wir Studenten ihm den Wechsel zur LVZ »sehr übel genommen« haben (»erst hier die große Fresse und dann einfach abhauen«), und nimmt auch nach einer so langen Besinnungspause für sich in Anspruch, als Dozent »die richtigen Fragen« gestellt zu haben (»wenn auch vielleicht nicht immer scharf genug«). 70
Auch Wulf Skaun galt damals nicht wenigen als ›Hoffnungsträger der Sektion‹. Selbst rechnete er mindestens mit dem Lehrstuhl, den er seit 1984 ohnehin schon leitete, wenn auch ohne Professorentitel. 71Die Karteikarten, auf denen das steht, was er bei der Evaluierung sagen wollte, hat Skaun noch daheim. Für ihn wird sich das immer anfühlen wie gestern. »In der Sache wäre ich penibel und quellentreu gewesen und in der Form souverän-lässig. Ich hätte über mediensoziologische Ansätze hüben und drüben gesprochen. Ich hätte auch gesagt, dass ich bis auf Noelle-Neumanns Schweigespirale 72keines der westdeutschen Konzepte als Original gelten lasse. Zur Geschichte der Inhaltsanalyse gab es dort gar nichts. Ost und West waren nicht so weit auseinander. Und dann hätte ich gesagt, dass ich keinen Anspruch erhebe auf eine Stelle«. 73
Eine solche Phantasie kennt jeder, der im Job leidet. Mit großer Geste alles hinknallen. Wie die meisten hat auch Wulf Skaun das nur im Kopf durchgespielt. Er sagt heute, er sei »freiwillig gegangen«. 15 Jahre Mitglied der SED-Kreisleitung in der Universität, von 1974 bis 1989. Am Rektoratsgebäude habe er jeden Tag in großen Buchstaben lesen können, dass genau diese Leute jetzt »in den Tagebau« gehören. Und dann sei da auch so etwas wie Solidarität gewesen, mit Günter Raue und Klaus Preisigke, den beiden Direktoren, die bei den Studenten schon durchgefallen waren, bevor Karl Friedrich Reimers kam. Wulf, hätten die Genossen gesagt: »Du wirst dich doch nicht auf dieses bürgerliche Tribunal einlassen. Wir machen das nicht«. Weiß man in einem solchen Moment, dass das eine der Entscheidungen ist, die einen bis ins Grab verfolgt? »Kleinkariert« sei das damals gewesen, sagt Wulf Skaun. »Ich war ja nicht abgewählt worden. Ich habe mich um ein letztes intellektuelles Vergnügen an der Sektion gebracht«. 74
WAS DIE KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFT VOR 30 JAHREN VERLOREN HAT
Dass Hans Poerschke heute Abend im Zeitgeschichtlichen Forum sprechen darf, vor einem vollen Saal, zunächst ganz allein am Pult und dann in einer Podiumsrunde mit zwei Professoren, die aus dem Westen nach Leipzig kamen, ist eine Sensation. Das sanfte Abschieben in den Altersübergang, die Zumutungen der Evaluation, der Rücktritt in die zweite Reihe selbst bei Kolleginnen wie Sigrid Hoyer, die von Westdeutschen einen Eignungsstempel bekamen: All das ist nur ein Teil der Wahrheit über die Vereinigung der Leipziger Journalistik mit der Kommunikationswissenschaft, die in Mainz bis heute Publizistik heißt. Zu dieser Wahrheit gehört auch, dass es die DDR in dieser akademischen Disziplin überhaupt nicht gibt.
Genau wie jeder Mensch steht auch eine Wissenschaftsgemeinschaft vor der Aufgabe, Kontinuität über Zeit und Raum herzustellen. Ich schreibe dieses Buch, um das, was ich heute bin, mit gestern und vorgestern zu verbinden. Göhren auf Rügen und Ruth Bahls, die uralte Englischlehrerin und Museumsgründerin, mit der Ostsee-Zeitung , für die auch Sigrid Hoyer und Wulf Skaun geschrieben haben, meine Dozenten an der Universität, und mit Karl Friedrich Reimers, der nicht nur gesagt hat, dass jemand wie ich im neuen Deutschland Professor werden kann, sondern dafür mit seinen Gutachten auch etwas tat. Anthony Giddens, ein britischer Soziologe, versteht Identität als kontinuierlich ablaufenden reflexiven Prozess, der uns permanent zwingt, alles, was passiert, in die Erzählung über uns selbst einzubauen. 75Identität ist die Geschichte, die wir von uns selbst haben und die ich hier aufschreiben darf. Diese Geschichte verändert sich, weil wir ständig neue Menschen treffen und Dinge erleben, die längst nicht immer zu dem passen, was wir bisher über uns dachten.
Die Kommunikationswissenschaft hat die DDR-Journalistik einfach abgestoßen – ihre Ideen genauso wie die Menschen, die diese Ideen entwickelt und vertreten haben. Was in Leipzig zwischen 1945 und 1990 gemacht wurde, gehört nicht zur Identität dieser Universitätsdisziplin. Hans Poerschke, Sigrid Hoyer, Wulf Skaun oder Wolfgang Tiedke haben keinen Platz in der Erzählung der Kommunikationswissenschaft über sich selbst. Sie haben auch keinen Platz in der DGPuK, in der Fachgesellschaft, in die man heute schon aufgenommen werden kann, wenn man einen 50-Prozent-Vertrag in einem Projekt mit zwölf Monaten Laufzeit unterschrieben hat. Vor 30 Jahren hat die DGPuK ein Jahr »hinter verschlossenen Türen« über Wolfgang Tiedke diskutiert – »bis er dann selbst gesagt hat, er finde das eigentlich nicht mehr angemessen«. 76
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