„Beim fünften Schuss waren wir auf fünfzig Meter heran, aber da bog er aus, der Schweinekerl ...“
Verlegen lachend unterbrach er sich.
„Verzeihung, man kommt so ganz in den rauhen Kriegston hinein, wenn man so lang ohne Damen ist. Aber das festliche Ereignis heut muss gebührend gewürdigt werden ... Jesses, nun hat das Kamel von Ordonnanz noch nicht einmal den Kaffee serviert? Ei, den soll ja gleich das heilige Gewitter ...“
Helene hatte ihr Taschentuch gezogen und ihre Augen getrocknet. Abwehrend dankte sie. Nein, es sei ihr unmöglich, länger zu bleiben. Sie müsse ihren Freundinnnen nach. Jetzt werde es auch schon dunkel und ihr Weg sei noch weit.
Der Batterieführer erhob noch lebhafteren Widerspruch als der Gast. Der erbot sich natürlich, sie zu begleiten; aber das schlug sie von vornherein aus. Man konnte ja nicht wissen, dass sie deutscher Abkunft war; den Französinnen aber, die sich hier an der Seite von deutschen Heeresangehörigen zeigten, denen erging es schlimm; der Hass sei ja unausrottbar.
„Aber es ist doch ausgeschlossen, Frau Martin,“ sagte Hans West mit erregter Stimme, „dass ich mich mit dieser kurzen Begegnung zufrieden gebe.“
„Wenn ich Sie nun bitte?“
„Sie müssen mir gestatten, dass ich Sie aufsuche.“
„Das schadet mir dann in dem Kreis, in dem ich nun einmal zu leben gezwungen bin.“
„Dann werden Sie diesen Kreis verlassen, Frau Martin. Glauben Sie denn, wir deutschen Barbaren werden nicht Mittel und Wege finden, um einer Landsmännin zu helfen?“
„Ich bin Ihre Landsmännin nicht mehr, lieber Freund. Ihre Behörde hat mir darum rundweg den Pass nach Deutschland verweigert. Ich muss mein Schicksal nun schon tragen.“ Sie reichte ihm die Hand. „Aber ich danke Ihnen für den guten Willen.“
„Frau Helene —!“
Sie duldete nicht, dass er sie vors Haus begleitete, gar dass er sie im Auto nach Hause fuhr, wie er ihr vorschlug.
Der Mathematiker war enttäuscht von dem kurzen Besuch. Und noch mehr davon, dass der junge Pionier sich nun auch nicht länger halten lassen wollte. Es hätte ihn doch interessiert, mehr zu hören über die Besitzerin seines „Schattohs“. Er gab dem Kameraden das Geleite bis ans Auto. Knatternd machte das kehrt und fuhr dann nach dem Flugplatz zurück.
Auf allen Teilen des breiten Boulevards herrschte noch starker Verkehr. Die Mitte gehörte dem Militär. Autos, Motorräder, Feldpostwagen, Proviantkolonnen — Staubwolken mit sich reissend, strebten sie nordwärts und südwärts. Überfüllt, noch auf den Trittbrettern besetzt von Feldgrauen, sausten die hellgelben Wagen der Strassenbahnen von Roubaix und Tourcoing vorbei. Auf den verschiedenen Fusswegen zog abgespanntes Sonntagsvolk vom Nachmittagsspaziergang mit müde trippelnden Kindern der Stadt zu ...
Helene fand erst auf der Grand’ Place eine Möglichkeit, mit einer der Strassenbahnen, die zu den jenseitigen Toren fuhren, mitzukommen. Alle Wagen waren überfüllt. Das Trüpplein ihrer Nachbarinnen hatte sie unterwegs nirgends mehr gesehen. Natürlich wollte sie sie noch aufsuchen, um ihnen Aufschluss über die Begegnung mit dem deutschen Offizier zu geben.
Aber das ward dann noch ein ängstlich-erregtes Warten vor dem Haus, in dem Frau Babin wohnte. Sie hatte das aus zwei Stuben und Küche bestehende Erdgeschoss des schmalen Torgebäudes der stillstehenden Brauerei in der Rue Trochu inne. Challier hatte ihnen die Wohnung verschafft. Niemand öffnete, als Helene klingelte. Kinder, die im Tordurchgang spielten, behaupteten, die Damen seien noch nicht heimgekehrt.
Im Dämmerlicht sah Helene die drei dann endlich ankommen. Es war ein jammervolles Bild. Yvonnes leidender Fuss versagte den Dienst. Sie ward von Mutter und Schwester halb gestützt, halb geschleppt.
Und Helenens Befürchtung traf zu: Sie hatten den ganzen Weg laufen müssen, weil sie das Fahrgeld nicht mehr besassen.
Eine unheimliche Stimmung herrschte in dem engen Raum. Leise stöhnend streckte sich Yvonne im Bett der Mutter. Sie besassen nur das eine. Die Töchter schliefen sonst auf einer Matratze, die sie abends aus dem Verschlag bei der Küche herauszogen. Die Lampe qualmte. Nur ein Rest Öl war noch da. Challier, den Léonie herbeigerufen hatte, brachte dann noch eine Kerze. Er ging schliesslich, um einen Arzt zu holen.
Helene fand keine Gelegenheit, mit einer von ihnen über ihre eigenen Angelegenheiten zu sprechen. Frau Babin hatte wieder ihre eisige Unnahbarkeit. Und Helene empfand wohl die stumme Anklage heraus: Ihr massen sie die Schuld daran bei, dass Yvonne über ihre Kräfte angestrengt worden war, denn sie hatten sich auf ihr Mitkommen verlassen.
Als der Arzt kam, schickte er die Damen aus dem engen Schlafzimmer. Während der Untersuchung, bei der man Yvonne manchmal in ihrem silberhellen Kinderton aufschluchzen hörte, trat Helene zu Frau Babin, an die sich Léonie eng anklammerte. Sie suchte nach der Rechten der schwergeprüften Frau. „So innig leid tut mir’s, Frau Babin,“ sagte sie.
Aber sie erschrak über sich selbst: sie hatte deutsch gesprochen.
In nervöser Abwehr löste Frau Babin ihre kalten Finger aus Helenens Hand. Und im Halbdunkel sah Helene unter den vier steifen, geraden, dunklen Brauen die vier wie im Hass sie anstarrenden Augen.
„Wir verstehen uns wohl nicht mehr,“ sagte Frau Babin tonlos.
Mutter und Tochter hatten die freie Hand zurückgezogen. Sie wollten keine Gemeinschaft mehr mit einer Frau, die die Freundin von einem dieser Hunnen war.
In tiefer, innerer Zerrissenheit trennte sich Helene endlich von ihnen. So inniges Mitleid mit Yvonne erfüllte sie — und ihrer Mutter und Schwester war sie kaum gram, weil sie ihren Stolz und ihre Anklage verstand ... Aber da regte sich nun wieder diese lang vergessene Sehnsucht in ihr ... Und es ward ihr so schmerzlich klar, dass sie kein Vaterland mehr besass, keine Heimat.
Nun sass Helene wieder bei ihren alten französischen Freunden in der Inkermanstrasse. Aber sie empfand: sie waren einander fremd geworden.
Laroche sprach gekränkt. Die Gefühle, die er für die Freundin seiner Tochter gehegt, waren seltsam gemischt zwischen väterlicher Besorgnis und jähen Wallungen, die den trotz kinderreicher Ehe unbefriedigten Fünfzigjährigen überfallen konnten.
So herzlich hatte er sich damals der verlassenen jungen Frau angenommen — ihr plötzliches Verschwinden musste er sich wie eine misstrauische Absage auslegen. Gewiss war damals die Freundschaft mit dem jungen deutschen Offizier schuld gewesen an dem ihm sonst unerklärlichen Bruch. Lange, lange hatte die Eifersucht an ihm gezehrt.
In Laroche glühte ein jugendliches Feuer, das ihn auch auf dem Gebiet der Politik schon oft in heisse Kämpfe gedrängt hatte. Er konnte nicht wie so viele Liller der besseren Kreise lau der Fremdherrschaft zusehen; es drängte ihn, den Landsleuten zu helfen. Seine tapfere älteste Tochter unterstützte ihn bei seiner unermüdlichen Werbetätigkeit. Noch so viel Flüchtlinge lebten hier in der Verborgenheit: Soldaten, die sich bei der Einnahme der Stadt der Gefangenschaft entzogen hatten und in ihren armseligen Verstecken nun bittere Not litten.
Laroche war reich, seine Weingüter brachten grosse Erträge, aber seine Grosshandlungen in Armentières und Arras lagen jenseits der Schützengräben und waren für ihn unerreichbar. So konnte er den Unglücklichen nicht in genügendem Masse helfen.
Zum Glück hatte er die Kasse des Territorialregiments, das zuletzt auf der Zitadelle gelegen, für die Unterstützung mit verwenden können; die Zuwendungen der anderen vermögenden Bürger, an die er sich gewandt, blieben in sehr bescheidenem Rahmen. Er lebte nur seiner vaterländischen Pflicht. Seine nach zahlreichen Wochenbetten immer kränkliche, immer wehleidige Frau, die ihm auch geistig nicht ebenbürtig war, machte kaum Forderungen an ihn geltend. Sie brauchte ihn nur, um ihm vorzuklagen, wie sich von Tag zu Tag die wirtschaftlichen Verhältnisse schwieriger gestalteten — Hammelfleisch gab es schon gar nicht mehr, Eier waren kaum zu bekommen, Butter kostete bereits acht Francs, und es war dabei ein Drittel Wasser.
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