Theo West, der sich nur mit geringer Aufmerksamkeit in dem halbfertigen Hause umgesehn hatte, blickte nun überrascht auf.
„Kampff — Kampff-Werke ... Ist seine Tochter etwa eine Frau Martin? Helene Martin?“
Der Professor zuckte die Achsel. „Vor einer Viertelstunde war ein halbes Schock Weiber hier. Ich hab’ grad geschlafen, mein Bursche hat mir’s erst hernach gesagt, er hat mich nicht wecken wollen. Ja, dabei sei auch die Besitzerin gewesen. Sie hätten sich einmal ein bissl im Haus umsehn mögen ... Mein Wachtmeister ist aber sehr scharf, der duldet so was nicht und hat sie abblitzen lassen. Ohne meine Einwilligung dürft’ kein Fremder die Stellung betreten. Da könnte ja sonstwer kommen und herumschnüffeln.“
„Ausgeschlossen, dass die Besitzerin dabei war,“ sagte der Flieger. „Die ist längst in Deutschland, die Frau Martin. Ich sprach noch gestern abend mit meinem Bruder über sie. Er hat sie seinerzeit kennengelernt. Ei, das sollte mich doch wundern ... Hat Ihr Wachtmeister sie wirklich selbst gesprochen?“
„Auf eine Zigarettenlänge müssen S’ jetzt eh’ schon ins Kasino eintreten, Herr Kamerad. Ein Kirsch gefällig? Es hat auch Cordial Médoc. Was, Alkoholgegner sind S’? Ja, ja, die Herren Flieger ... Ich lass’ den Niemayer ’rüberkommen, er kann ja mal Meldung erstatten.“
Während sie in den lustig ausgestatteten Kneipraum eintraten, berichtete Theo West, was ihm im Gedächtnis haften geblieben war. Frau Martin war bei der Beschiessung von Lille im vorigen Oktober in ihrem Wohnhaus am Boulevard de la Liberté verschüttet worden; sein Bruder, der die Pionierarbeiten leitete, hatte bei ihrer Befreiung mitgewirkt und sich hernach mit ihr angefreundet. Es hatte sich ergeben, dass sie Jugendfreunde waren: Frau Martins Onkel, der Organist Karl Maria Kampff in Wohlfahrtsweier bei Durlach, war der Musiklehrer der vier Gebrüder West in Gottesaue gewesen.
„Ich erinnere mich ganz deutlich, mein Bruder hatte sich noch ins Zeug gelegt dafür, dass die junge Frau den Reisepass nach Deutschland bekam. Sie hatte keine Mittel mehr — war ganz abgebrannt — ihr Mann in Paris ...“
„Da kommt Niemayer, der hat sie ja gesehn.“
Der Wachtmeister war der Meinung, dass die vier Frauenspersonen heute nachmittag bloss so aus Neugierde — vielleicht auch um die Batteriestellung auszukundschaften — sich hier hatten eindrängen wollen. „Man hat doch seine Menschenkenntnis,“ sagte er, überlegen schmunzelnd, „und von den vieren sah mir keine nach Schlossherrin aus. Ich hab’ ihnen gesagt, sie sollten in einer Stunde wiederkommen, wenn der Herr Batterieführer da sei, hab’ ich gesagt. Na, und da zogen s’ auch gleich weiter. Auf Roubaix zu sind sie. Bis jetzt haben s’ sich noch nicht wieder blicken lassen.“
„Das muss ich dem Hans erzählen!“ Theo West schüttelte ungläubig den Kopf. „Mein Bruder sagte noch gestern, soundso oft habe er den Versuch gemacht, irgendeine Nachricht über sie zu bekommen ... Freilich hält’s ja schwer, mit der Heimat in Verbindung zu bleiben, wenn einer so herumgewirbelt wird wie der.“
„Er ist Pionier? Hans West — warten S’ einmal, den hab’ ich auch schon kennengelernt. Wo ich mit meiner Batterie draussen gelegen hab’. Ja, ein Oberleutnant West war’s, der da an der Stellung mitgearbeitet hat. Grüssen S’ ihn doch, wann Sie ihn sehen!“
„Er ist heute auf dem Flugplatz. Endlich hat er einmal ein ruhigeres Pöstchen. Er soll in Lille den Hauptmann bei der Fortifikation vertreten, der erkrankt ist. Natürlich hofft er zum Frühjahr nach Russland zu kommen. Er will ja immer dabei sein, wenn wo was los ist ... Haben Sie schönsten Dank für die Führung, Herr Professor. Wenn ich morgen früh aufsteige, zu den Engländern hinüber, dann ist mir’s eine innige Beruhigung, die Batterie hier in so sicheren Händen zu wissen. Ich guck’ auch einmal herunter.“
„Ich kann nicht garantieren, dass ich Sie von hier unten aus erkenn’,“ meinte der Professor. „Also, wann ich nicht gleich hurra schrei’, dann dürfen S’ mir nicht gram sein.“
Sie lachten, mit Händedruck verabschiedeten sie sich, und Theo West bestieg sein Auto wieder.
Kaum eine halbe Stunde später hielt das eisengraue kleine Gefährt abermals vor der Batteriestellung. Diesmal entstieg ihm Theos Bruder, der Pionier.
Und zwischen dem Rohbau und dem gegen Sicht von oben durch Tannenreisig geschützten Wachtraum begegnete er den vier Damen aus Lille, die von dem Mathematik-Professor und seinem Wachtmeister soeben einem eingehenden Verhör unterzogen wurden.
Hans West kam bestürzt — erst noch unsicher, dann in wachsender Erregung — auf Helene zu. Beide Hände hielt er ihr hin. Sein Ton war herzlich, als er sie begrüsste. Und in starker Bewegung sah er sie an, fast erschüttert. Es war nicht mehr die junge schöne Frau. Sie trug die Merkmale des Leidens, des Entbehrens. Indem sie jetzt die Lider senkte — vielleicht aus Scheu vor den andern —, warfen ihre schweren, langen Wimpern noch tiefere Schatten in ihr blasses und schmales Gesicht.
„Frau Martin — Sie noch hier in Lille?! — Ja, warum haben Sie mir denn niemals Nachricht gegeben? ... Und wie geht es Ihnen jetzt? Gesundheitlich? Und wie haben Sie den langen grässlichen Winter hier überstanden? ... Das sind Bekannte von Ihnen? Wollen Sie mich vorstellen? ... Ist es wahr, das sollte hier Ihr Haus werden? ... Ich fasste es gar nicht, als mir mein Bruder sagte, Sie seien nicht in Deutschland ... Herr Professor, ja, denken Sie ...“
Die Unterhaltung des Wachtmeisters Niemayer mit den drei Begleiterinnen der jungen Frau war weniger lebhaft, auch weniger liebenswürdig abgelaufen. Frau Babin blieb sehr gemessen, fast hoheitsvoll. Sie hatte links Léonie, rechts Yvonne an den Arm genommen. Mit der Miene einer Fürstin blickte sie über den Wachtmeister hinweg, keine seiner Fragen beantwortete sie, bis endlich der Batterieführer, der noch von der stürmischen Begrüssung der jungen Villenbesitzerin durch den Bruder des Fliegers ganz verdutzt war, das Wort an sie richtete. Der Professor sprach ein grammatikalisch richtiges, aber sehr umständliches Französisch. Die drei Damen blickten einander fragend an, zum Zeichen, dass sie nicht verstanden; alle drei zogen die Augenbrauen hoch; sie sahen dadurch einander verblüffend ähnlich.
Es kam endlich so etwas wie eine Vorstellung zustande. Aber die drei Französinnen blieben Eis. Frau Babin setzte auch eine auffallend fremde Miene auf, als sie Helene vorschlug, sie würden einstweilen vorangehen.
Helene merkte gar nicht, dass Vorwurf aus dem Ton klang. Sie war viel zu stark bewegt von dem unvermuteten Wiedersehn. Nach ihrem Unfall bei der Beschiessung von Lille hatte sich Hans West in so herzlichfreundschaftlicher Weise ihrer angenommen. Er war für sie ein Stück der Heimat geworden, die sie durch ihre Ehe mit dem weltbürgerlichen Flüchtling verloren hatte.
„Ich konnte Ihnen ja keine Nachricht geben,“ sagte sie mit einem melancholischen Lächeln. „Die Herren auf dem Passamt hatten gewechselt. Keiner nahm sich meiner an. Und es hiess nur immer wieder: es sei allen Heeresangehörigen streng verboten, irgendwelche Nachrichten zu vermitteln. Da musst’ ich mich denn bescheiden.“
„Und Sie wohnen nun wieder bei Ihren Freunden? In der Inkermanstrasse? Oder am Boulevard Vauban?“
„Ach nein, nein. Ich hab’ sie seitdem nicht mehr gesehen.“
„Seitdem nicht mehr gesehen?“ Er zog die Stirn in Falten. „Aber wie haben Sie dann gelebt? Wovon? Wo? Wer hat Ihnen geholfen? Ist denn keiner, keiner dagewesen, der mir auch nur ein Wort hätte sagen können, einen kleinen Wink geben? ... Frau Martin, ich habe ja so oft den Versuch gemacht ... Auch in Magdeburg, auf den Kampffschen Werken, hat niemand etwas von Ihnen gewusst. Ich schrieb nach Mainz, nach Düsseldorf. Immer vergeblich. Sie seien in Paris, hiess es. Über die Schweiz habe Ihr Mann einmal den Versuch gemacht, mit seinen Frankfurter Verwandten in Beziehung zu kommen. Das war alles, was sie erfahren hatten. Ach, Sie müssen mir ja so viel, so viel erzählen ...“
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