Sonia Simmenauer - Muss es sein?

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Schon jetzt ein moderner Klassiker der Musikliteratur: Die Konzertagentin Sonia Simmenauer erzählt aus dem Alltag «ihrer» ­Streichquartette, darunter so berühmte Formationen wie das Alban Berg oder das Guarneri Quartett. Vier Menschen, die Musik machen, die miteinander leben, arbeiten, reisen, auftreten, sich streiten und sich lieben – ein idealer Kampfplatz für Neurosen, Beziehungsprobleme und die Auseinandersetzung mit anspruchsvollster Musik. Simmenauer gelingt eine berührende, höchst unterhaltsame Beschreibung dieser besonderen Lebensform.
"Ich glaube nicht, dass es ein solches Buch je gegeben hat, und wer weiß, ob irgendwann einmal ein ähnlich gutes Buch geschrieben wird."
Günter Pichler, Alban Berg Quartett

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Herr Dr. Sprengel, Inhaber der Hannoveraner Schokoladenfabrik und großer Mäzen, war Vorsitzender der Kammermusikgemeinde Hannover. Er spielte auf dem Register der Streichquartette wie mit geschlossenen Augen auf einem Klavier. Er kannte sie alle, viele auch persönlich, und wusste genau, wer welche Werke wann und vor allem wie in Hannover gespielt hatte. Laut Vereinssatzung sollte jährlich eine Mitgliederversammlung stattfinden, um über das Geschäftsjahr Bericht zu erstatten und durch eine Wahl (oder Wiederwahl) die verschiedenen Posten der Vorstände, Vizes, Schatzmeister etc. zu besetzen. Dr. Sprengel war nicht nur Vorsitzender, sondern in hohem Maße auch Förderer der Vereinigung. Tatsächlich führte er die Kammermusikgemeinde allein, entschied über die Interpreten und Programme. Dabei hielt er sich an die »Vereinsregeln«, jährlich eine Versammlung einzuberufen, per Zeitungsannonce, nur jedes Mal unter einer anderen Rubrik, in der eine solche Nachricht niemals vermutet werden konnte (Umzüge, Tierbetreuung). Die zu Beschlüssen notwendige Anzahl von Mitgliedern wurde persönlich eingeladen, nach seinen eigenen Kriterien.

Es scheint fast so, als seien es hier die Zuhörer, die die Künstler persönlich einladen, um auf der Bühne die Werke exemplarisch vorgeführt zu bekommen, an denen sie sich selbst im eigenen Wohnzimmer abarbeiten. Entsprechend hoch ist der an die professionellen Musiker gestellte künstlerische Anspruch. Eine Anekdote erzählt, dass ein sehr versierter Veranstalter ein berühmtes Quartett aufgrund einer ausgelassenen Reprise für Jahre von seinem Programm verbannte.

Gleichwohl erzeugt die Materie eine große Gemeinschaft, weil alle vor der Partitur, ob auf der Bühne oder im Wohnzimmer, das gleiche Los teilen. Manch ein Amateurstreichquartett wird sein häusliches Repertoire nach den Programmen der örtlichen Konzertreihe aussuchen und die Konzerte als eine Art Vortrag oder Unterricht definieren, andere werden ihren Einfluss im Verein ausüben, um die Künstler einzuladen, die ein Programm nach ihren Vorgaben spielen können. Das »Familiäre«, das auch zu der besonderen Atmosphäre der Kammermusikkonzerte führt und zu dem Vergleich mit den philosophischen Abenden, hat natürlich auch eine Kehrseite, die ich als Konservatismus bezeichnen würde. Die große Freude, der Grund aller ehrenamtlichen Mühe, zielt mehr auf die Pflege und die Aufführung von Bekanntem und lässt nur sehr wenig Raum für das Neue und erst einmal Fremde.

Auch die ehrwürdige und sehr konservative Gesellschaft für Kammermusik Basel war auf das junge Alban Berg Quartett aufmerksam geworden und lud es schließlich ein, sein Debüt bei ihr zu geben. Die Einladung barg Auflagen: Es durften keine modernen Werke auf dem Programm stehen. Eine erstaunliche Tatsache, da zu der Zeit das Musikleben Basels schon lang unter dem Einfluss Paul Sachers gestanden hatte, eines großen Förderers und Interpreten neuer Musik. In dem vom Quartett vorgeschlagenen Programm hatten die Sechs Bagatellen op. 9 von Anton Webern gestanden, die also ersetzt werden mussten. Das Dilemma war groß: Das Alban Berg Quartett hatte es sich zum Prinzip gemacht, kein einziges Programm ohne ein Werk des 20. Jahrhunderts aufzuführen. Andererseits nutzen die Prinzipien wenig, wenn niemand sie wahrnehmen will. Dazu gehörte, dass das Quartett eine Bühne bekam, um überhaupt ein Publikum gewinnen und ihm neue musikalische Wege aufzeigen zu können. Das Quartett gab nach und akzeptierte die Bedingung. Webern erschien nicht auf dem Programm. Als das Publikum sich anschickte, in die Pause zu gehen, nutzte Günter Pichler den Moment des Applauses und wandte sich an das Publikum: Er kündigte an, dass das Quartett jetzt noch die Sechs Bagatellen von Anton Webern spielen würde, aber diejenigen, die es nicht hören wollten, jetzt den Saal verlassen könnten. Ein einziger Zuhörer ging. Das Publikum empfing das Werk mit großer Konzentration und anschließendem tosendem Applaus.

WIESO AUSGERECHNET STREICHQUARTETTE?

Es wird stets angenommen, dass ich selbst Streichquartett spiele, einen anderen Grund, sich derart in Sachen Streichquartett zu spezialisieren, kann es eigentlich nicht geben. So gelingt die Überraschung jedes Mal aufs Neue, wenn ich gestehe, dass ich in keinem Streichquartett spiele, nicht einmal ein Streichinstrument beherrsche und das Klavierspielen längst ad acta gelegt habe.

Ich bin in einer Vorstadt im Süden von Paris aufgewachsen, weil mein Vater dort in einer Anfang der sechziger Jahre gebauten Siedlung seine Kinderarztpraxis eröffnete. Die Erwachsenen sagten, es sei schon Paris, uns Kindern – noch schlimmer Jugendlichen – schien die Stadt in unerreichbarer Ferne zu liegen. Zu Hause sprachen wir nur Französisch, unsere Eltern sagten uns, wir seien Franzosen. Ich fühlte mich dennoch immer fremd. Manches erschien mir rätselhaft. Ich durfte nicht, wie die meisten anderen Mädchen in meiner Klasse, an bestimmten Tagen nach der Schule in die kleine neugebaute Kirche, wo sie auf die erste Kommunion vorbereitet wurden. Ich verstand nicht, warum. Oft telefonierte mein Vater auf Deutsch, und immer wieder kamen Leute, meistens Musiker, mit denen er auch Deutsch sprach. Sie lebten in Amerika oder in Israel oder noch viel weiter weg, waren in Paris für ein Konzert, einen Kongress oder einfach auf ihrer jährlichen Europareise und kamen zu Besuch. An solchen Abenden wurde musiziert, wann immer möglich Streichquartett, und es wurde viel gesprochen, während und nach dem Musizieren. Wenn ich auch die Sprache nicht verstand, spürte ich doch, dass an solchen Abenden ganz andere Welten lebendig wurden. Erst als wir etwas größer waren, erzählte mein Vater von der Zeit vor dem Krieg, von Schlittschuhfahrten auf den gefrorenen Kanälen in Hamburg, von Wochenenden in Lauenburg und von der Talmud-Thora-Schule am Grindel, wohin er hatte wechseln müssen, als er nicht mehr in die öffentliche Schule durfte. Nach seiner Pensionierung kam er unserem Wunsch nach und schrieb seine Erinnerungen auf, seine Kindheit in Hamburg und die Kriegsjahre in Frankreich. Wir kannten schon etliche Geschichten, aber aufgeschrieben sind sie anders. Besonders wertvoll wurde mir das Heftchen, als meine eigenen Kinder groß genug waren, es selber zu lesen.

»In meiner Familie hatte Hausmusik, Kammermusik eine lange Tradition. Mein Großvater, 1ein angesehener Anwalt, spielte wöchentlich Streichquartett mit den Solisten der Hamburger Philharmonie. Das habe ich leider nie gehört, denn er wanderte 1933 nach Antwerpen aus: Da war ich sechs Jahre alt.

Übrigens erfand er eine schlaue List, sein Vermögen mit ins Ausland zu nehmen (was in Nazi-Deutschland streng verboten war). Er kaufte ein ganzes Streichquartett: vier Instrumente der Brüder Hieronymus und Antonio Amati. 2Die wurden leicht über die Grenze gebracht, weil sie nicht neu waren! In den zehn Nachkriegsjahren verwaltete ich dieses Quartett in Paris, bis es für die Erbgemeinschaft verkauft wurde.«

Die Familie meines Vaters floh 1938 – mein Vater war elf Jahre alt – vor dem Nazi-Regime aus Deutschland nach Paris. Wie viele assimilierte Juden hatten sie sich sehr spät entschieden, zu emigrieren. Kurze Zeit danach mussten sie noch einmal vor den einmarschierenden Deutschen weiter nach Süden fliehen. Sie schafften es gerade noch, versteckt und unter falscher Identität in Südfrankreich durch den Krieg zu kommen, und ließen sich danach in Paris nieder.

»Cello hatte ich schon in Hamburg zu lernen begonnen. Während der Kriegsjahre, versteckt in Frankreich, verbrachte ich meine Tage mit Celloüben, denn ausgehen war gefährlich. Nach dem Krieg, in Paris, wurde ich eines Tages auf mein Cello angesprochen: ›Sind Sie Amateur?‹ ›Ja.‹ ›Dann sind Sie der, den ich suche.‹ Thevernot war der Bratschist eines Kriegsgefangenen-Quartetts, das im Lager die klassische Literatur durchgespielt hatte. Pigot, ein Ingenieur, war Erster Geiger, seine Schwester war Berufspianistin am Radio. Der Bratschist, Bijou, war angehender Frauenarzt. Der Cellist war gestorben, und so forderte man mich auf, an seiner statt einzuspringen. Man setzte mir als erstes Mozarts D-Dur-Quartett vor. Eine Zumutung!«

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