Anders ist die Konstellation im obersorbischen Kerngebiet, in dem die Weitergabe der Sprache bis heute ohne Bruch stattfand. Die Kirche entwickelte sich hier aufgrund eines historischen Sonderweges zu einem Schutzraum für das Obersorbische. (Menzel/Pohontsch, in diesem Band)
(6) Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, gilt als nicht territorial gebundene Sprache, d.h. als Sprache „die keinem bestimmten Gebiet innerhalb des betreffenden Staates zugeordnet werden [kann]“ (Europarat 1992: 2). Sie ist integraler Bestandteil der (gesamt-)europäischen Kultur; ihre Sprecher sahen sich v.a. in der Vergangenheit jedoch Marginalisierung, stereotypen Vorurteilen sowie Diskriminierung seitens der Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt. Der seit ein paar Jahren stattfindende politische Emanzipationsprozess und die vermehrte Verwendung des Romanes auf internationaler Ebene durch Aktivisten bewirken nicht nur seine Aufwertung, sondern auch einen Funktions- und Strukturausbau. Eine Erforschung dieser Sprache mit indoarischen Wurzeln und starker Prägung durch die jeweiligen Kontaktsprachen erweist sich (v.a.) für Deutschland vor dem historischen Hintergrund als äußerst schwierig. Zu tief im kollektiven Gedächtnis verankert sind die Aktivitäten
von sogenannten Forschungsinstitutionen vor und während der NS-Zeit […], um u.a. die familiären Strukturen der Sinti zu dokumentieren, die dann wiederum Basis der Deportationen waren. (Halwachs, in diesem Band)
(7) Die russischsprachige Minderheit setzt sich aus verschiedenen Untergruppen zusammen. Die mit dem Russischen in Deutschland salienteste Verknüpfung besteht dabei wohl zu den (Spät-)Aussiedlern, den Nachfahren deutscher Siedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten. Sie stellen mit zirka 2,3 Millionen Angehörigen auch die größte Untergruppe dar. Bei ihnen stellt sich neben der Frage nach dem Erhalt des Russischen auch die Frage nach dem Erhalt der sogenannten russlanddeutschen Dialekte, der Hauptvarietät der ältesten noch lebenden Generation.
Über sehr gute Kenntnisse der russischen Sprache verfügt vornehmlich die zweite Generation, da sie das Russische in der Schule erlernt im Beruf und Alltag später als Hauptkommunikationssprache verwendet haben und diese bereits vor der Auswanderung als Familiensprache etabliert haben. (Dück, in diesem Band)
Der (rechtliche) Sonderstatus und die negative Fremdwahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft bzw. deren Kategorisierung als Russen wirken sich zudem destabilisierend auf die Identitätskonstruktion der (Spät-)Aussiedler aus.
(8) Stellvertretend für durch Arbeitsmigration entstandene Minderheiten im Allgemeinen und die Gruppe der Gastarbeiter im Speziellen – und unter den allochthonen Minderheiten numerisch am stärksten – wird in diesem Handbuch die Minderheit der Türkeistämmigen beschrieben. Auch hier gilt: Eine Gleichsetzung von türkischstämmigen (Nachkommen von) Gastarbeitern und Türkischsprechern ist verkürzend und unzulässig (so gibt es auch Migranten aus anderen ethnischen Minderheiten in der Türkei, die auch Türkisch erworben haben, wie auch aus türkischen Minderheiten in Südosteuropa usw.), und doch ist genau diese Verbindung für die überwiegende Mehrzahl der Türkischsprecher zutreffend. Nachdem es sich nach Jahren der Rotation von „Gastarbeitern“ für die Industrie als sinnvoller erwies, eingearbeitete und bewährte ausländische Arbeitskräfte längerfristig zu halten, begannen diese „im Laufe der 1970er Jahre ihre Ehepartner und Kinder nachzuholen, wodurch spätestens ihr Ansiedlungsprozess begann“ (Cindark/Devran, in diesem Band). Türkisch ist eine sehr vitale Sprache in Deutschland. Sie wird sowohl mündlich als auch schriftlich in vielen verschiedenen Domänen und bei unterschiedlichen Anlässen verwendet, d.h. nicht nur von der ersten Generation der Migranten, sondern auch von den Nachfolgegenerationen; bei Letzteren lässt sich typischerweise viel deutsch-türkisches Code-Switching beobachten. Angesichts unter anderem der relativ stark ausgebildeten ethnischen Identität ist nicht davon auszugehen, dass die Vitalität der türkischen Sprache in Deutschland in naher Zukunft nachlassen wird.
(9) Für viele allochthone Minderheiten lassen sich mehrere Migrationsmotivationen finden, die zeitgleich zusammenfallen oder zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte relevant waren. Dies trifft zum Beispiel für die Sprecher des Polnischen in Deutschland zu. Hierbei handelt es sich um eine große, sehr heterogene Gruppe, die sich aus Nachkommen von Arbeitsmigranten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts („Ruhrpolen“), (Spät-)Aussiedlern (v.a. in den 1980er Jahren) und Arbeitsmigranten im Kontext der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit (seit 2011) zusammensetzt; hinzu kommt eine nennenswerte Individualmigration.
Dies wirkt sich direkt auf ihre sprachlichen Hintergründe und ihre Einstellungen zum Erhalt des Polnischen bzw. zum Erwerb des Deutschen aus. Neben der Vielfalt an sprachlichen Konstellationen hat diese Heterogenität auch Folgen für den internen Zusammenhalt der polnischsprachigen Bevölkerung in Deutschland: Die einzelnen Gruppierungen weisen keine engen Verbindungen auf, haben z.T. eigene Verbände und kulturelle Organisationen, die kaum miteinander vernetzt sind. (Brehmer/Mehlhorn, in diesem Band)
Letzteres dürfte auch zur faktischen „Unsichtbarkeit“ der Minderheit beitragen.
(10) Zu keinem der drei oben erläuterten Typen passt die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Sie unterscheidet sich als visuell-räumliche Sprache in ihrer Modalität sowohl von den anderen Minderheitensprachen als auch von der deutschen Lautsprache. Sie wird in Kommunikationssituationen mit Beteiligung von gehörlosen und hörgeschädigten Personen in Deutschland (und Luxemburg) verwendet. Auch wenn sich DGS-Verwender durchaus als sprachlich-kulturelle Minderheit wahrnehmen, ist ihre Sprache in Deutschland nicht als Minderheitensprache auf völkerrechtlicher Basis anerkannt. Rechtliche Anerkennung (als eigenständige Sprache) erfährt die DGS vielmehr nur über Paragraph 6 des Behindertengleichstellungsgesetzes. Wie an dieser Verortung deutlich wird, haftet der DGS (wie Gebärdensprache an sich) nur allzu oft das Image eines zweckbedingten Hilfsmittels an, dass die gesprochene Sprache in Form von Gesten widergibt. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive besteht jedoch kein Zweifel, dass Gebärdensprachen vollwertige natürliche Sprachen mit einem komplexen grammatikalischen System sind.
Alle beschriebenen Sprechergemeinschaften müssen sich gegenüber dem Deutschen als dominierende Mehrheitssprache behaupten. Dies liegt allerdings mehr an dessen „De-facto-Dominanz“ (Marten 2016: 147) als an dessen Festschreibung als Nationalsprache im Grundgesetz.2 Zwar gibt es einige nachgeordnete Gesetze, die den offiziellen Status bzw. die offizielle Funktion des Deutschen u.a. im Zusammenhang mit Behörden und Gerichten festlegen,3 insgesamt fehlt es in Deutschland jedoch an einer kohärenten Sprach(en)politik. Dies gilt auch für den Umgang mit den autochthonen Minderheitensprachen. Der Grund liegt u.a. in der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik. Das bedeutet, dass die einzelnen Länder über kulturelle Souveränität, d.h. über die primäre Kompetenz in Bezug auf die Gesetzgebung in den Bereichen Kultur und Bildung verfügen. Die meisten minderheitenspezifischen Gesetze finden sich in den Regelungen des jeweiligen Landes, in dem die Minderheit lebt. So hat der Schleswig-Holsteinische Landtag 2004 das sogenannte Friesischgesetz verabschiedet, das das Friesische und seine Verwendung zum Beispiel bei Behörden oder sein Erscheinen auf zweisprachigen Ortsschildern anerkennt. Letzten Endes den einzigen Kontext, in dem Deutschland als gesamter Staat in die Pflicht genommen wird, bildet die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Deutschland gehörte am 5. November 1992 zu den ersten Unterzeichnerstaaten dieses europäischen Vertrags. Die Ratifizierung erfolgte 1995; die Inkraftsetzung zum Januar 1999. Im Text werden zunächst Definitionen für den Anwendungsbereich der Charta gegeben: Demnach
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