Ich bin, wie Sie auch entscheiden, immer da, wenn Sie einmal einen Berater brauchen. Und ich grüße Sie herzlich.
Ihr K. G.“
Karl Gerstenberg. Es fiel ihr ein, daß er mit Vornamen Karl hieß. Karl der Große sagten die Jungen manchmal, wenn sie ihn neckten. Er war ja nicht übermäßig groß, vielleicht eine Handbreit größer als sie, das war für einen Mann nicht erheblich. Aber er war, so jungenhaft er sich gab, doch ein ernster und richtiger Mann.
Schimmel stand sehr nachdenklich mit dem Brief in der Hand und sah hinaus in den Hof. Er hatte alles sehr genau gesehen und erkannt, was ihr selbst noch gar nicht klar geworden war.
Merkwürdig. Mit keinem hatte sie gesprochen, mit Uli nicht, mit Gerstenberg nicht, mit Großvater nicht. Und alle drei hatten genau gefühlt, worum es ihr ging.
Ich muß allein durch, sagte sie sich, ich muß es selber entscheiden. Gestern war ich so nahe daran, daß ich glaubte, es wäre schon entschieden. Und heute? Gerstenberg hat recht, es ist wichtig, und Mutter wird es mir eines Tages vielleicht danken. Aber sie braucht mich doch jetzt!
„Seht doch mal Schimmel an“, sagte Mutter drüben am Tisch halblaut. Sie sagte es freundlich und belustigt, während sie Neuchen die letzte Tasse Kaffee eingoß. „Seit mindestens fünf Minuten steht sie dort am Fenster und guckt hinaus.“
Mutter lachte mit ihren blanken braunen Augen. „Sie schlägt mit ihrem ruhigen Temperament ganz in eure Familie hinein, Vater, Gott sei Dank. Es ist ja auch typisch, daß sie alle eure blauen oder doch wenigstens hellen Augen haben, alle sechs, keins meine dunklen.“
„Darum ist es nun wieder schade“, sagte Großvater in seiner unnachahmlich ritterlichen Art und legte seine Hand auf die der Schwiegertochter, „ich teile deine Meinung durchaus nicht, wenn du dich freust, daß die Kinder wenig von dir mitbekommen haben. Du bist ein sehr ‚ordentlicher Kerl‘, um einmal in der burschikosen Sprache der heutigen Zeit zu reden. Ich habe noch kaum je einen so tüchtigen Mitarbeiter gehabt.“
Schimmel war gerade an den Tisch getreten und hatte Großvaters letzte Worte gehört. Sie sah zu Mutter hin, die rot geworden war wie ein junges Mädel. Schimmel verstand das vollauf. Großvater gab es eben nur einmal auf der Welt.
In diesem Augenblick zeigte es sich, daß Schimmel doch einiges von Mutter mitbekommen hatte, von Mutters lustiger und unverwüstlicher Art. Sie war plötzlich nur noch froh, daß Gerstenberg ihr geschrieben hatte. Es war so nett von ihm, daß er sich um sie kümmerte. Schimmel, die bis dahin so stumm und nachdenklich gewesen war, setzte sich strahlend und vergnügt vor ihre längst kalt gewordene Tasse Kaffee und begann so morgenhungrig zu futtern, daß Großvater still in sich hineinlachte. – –
Ein paar Tage später bekam Großvater einen Brief, über den er sehr befriedigt zu sein schien. Er las ihn und legte ihn dann offen vor sich hin.
„Sag, Neuchen, könntest du Schimmel für einige Zeit entbehren?“ fragte er. „Da fragt mich eben Hans Steffens aus Hamburg, du weißt doch – ob ich nicht unter meinen zahlreichen Enkeln ein Mädel hätte, das im Alter seiner Frauke stünde. Siebzehn ist Frauke, schreibt er. Sie hat nur Brüder und möchte so gern mal eine größere Segelfahrt mit einigen Jungen machen, aber nicht ganz allein unter der Männlichkeit. Wäre das nicht was für Schimmel?“
Plisch und Plum rissen die Augen weit auf. Eine Segelfahrt, wunderbar! Wenn nur jemand mal nach ihnen verlangte für eine solche Gelegenheit!
„Wo denn? Auf der Elbe oder auf dem Meer? Und allein mit den Jungen? Ohne Erwachsene?“ sprudelte Plisch heraus, und Plum setzte sofort ihr beleidigtes Gesicht auf:
„Immer Schimmel“, brummte sie vorwurfsvoll, „immer bloß Schimmel!“
„Na, wißt ihr, was hat denn Schimmel dauernd vor euch voraus, möchte ich wissen“, sagte Neuchen ärgerlich, sie mochte nichts so wenig leiden wie beleidigte Gesichter. „Bitte, sag’ mir, Claudia, was Schimmel einmal hatte, was ihr nicht bekommen habt.“
„Doch! Doktor Gerstenberg wollte auch sie mitnehmen auf die Radfahrt und nicht uns ...“
„Wollte. Aber ist sie etwa mitgefahren?“
„Bloß weil sie kein Rad hatte!“
„Das ist nicht wahr“, fuhr Schimmel heftig auf, „ich bin nicht mitgefahren, weil –“
„Doch, du wärst, wenn du eins gehabt hättest. Und nächstes Jahr –“
„Ihr seid Neidhämmel!“ –
Der tugendhafte Schimmel – Plum, das freche Mädchen, nannte ihn sogar manchmal im Zorn „einen unerträglichen Tugendbold“ – hatte natürlich tausend Bedenken und wollte die Einladung nach Hamburg nicht annehmen. Wer sollte die Kleinen versorgen? Gerade in den Ferien waren sie nicht einmal in der Schule untergebracht. Wer würde Neuchen beim Einkochen helfen? Mutter war in der Ernte noch beschäftigter als sonst.
Doch dieses Mal halfen Schimmel keine Ausreden, sie mußte reisen. Mutter und Neuchen und Großvater, alle zerstreuten sie Schimmels Einwände. Na, sie freute sich natürlich doch. Sie freute sich sogar ganz mächtig, als die Reise nun beschlossene Tatsache war, und sie machte sich überstürzt ans Packen. Rür die nötigsten Anschaffungen hatte Großvater etwas gespendet, er meinte, eine Segelhose müsse sie doch wohl mit an die Elbe nehmen.
Eines Nachmittags fuhren Schimmel und Brita in den kleinen Ort, an dem die Bahn lag. Ein Städtchen war es nicht, vielmehr ein großes Dorf mit einigen Läden.
„Wir müssen Johannes was mitbringen“, sagte Schimmel, als sie am Anfang des Ortes vom Rad stieg. Sie hatten nur ein einziges Rad, das des Gutseleven, und Schimmel hatte Brita verbotenerweise hinten auf dem Gepäckhalter genommen. Das ging ganz gut.
„Ja, ein Eimerle. Oder einen Ball, einen recht bunten!“
„Den verkullert er“, sagte Schimmel überlegend. „Lieber etwas, was nicht so leicht verloren geht. Einen Bären?“ Aber Bären gab es hier in den Läden nicht.
Und so mußten sie für den Einkauf doch nach Warenburg fahren. Warum nicht? Zeit hatten sie, und ein Bär wäre eben doch sehr schön für Johannes. In Warenburg würden überhaupt alle Einkäufe besser zu machen sein.
In der Kreisstadt stellten sie das Rad auf dem Marktplatz ein und begannen einen großen Stadtbummel. Schimmel lud zunächst einmal Brita zu einem Eis für zehn Pfennig ein. Dann besorgten sie den Bären, der war ja das Wichtigste, und sie bekamen einen puschligen, braunen mit dem verschmitztesten Bärengesicht der Welt.
„Wenn wir aber Johannes etwas mitbringen, müssen auch Plisch und Plum was haben“, sagte Schimmel, „Plisch wünscht sich eine Laubsäge. Ob das sehr teuer ist?“
Eine Laubsäge war durchaus erschwinglich, wenigstens eine ohne Zubehör, aber Schimmel nahm eine, die mit Bohrern, Sägeblättchen, Zange und allem sonstigen Zubehör großartig auf eine Pappe geheftet war, aber freilich mehr kostete.
Plum? Plum sollte Kamm und Spiegel haben, weil sie immer umherlief wie ein Indianer. Vielleicht lernte sie dadurch auf sich achten. Sie fanden ein schönes rotes Etui. Eigentlich war es ja zu schön für Plum, aber einmal würde ja auch aus ihr ein richtiges Mädel werden.
Wozu eigentlich jetzt alle die Geschenke? Es war doch gar kein Geburtstag fällig. Ach, Schenken machte ja solche Freude!
„Mutter muß auch was bekommen“, bestimmte Schimmel. „Vielleicht ein Notizbuch mit Bleistift? Damit sie sich immer aufschreiben kann, was nötig ist. Und Großvater bekommt einen Drehbleistift. Er hat keinen, das weiß ich.“
Sie kauften einen silbernen. Er war sehr teuer, aber man bekam sofort den Namen unentgeltlich hineingraviert. Und Neuchen? „Weißt du, es ist besser, Neuchen bekommt das Etui mit Kamm und Spiegel, für Plum ist das doch noch nichts“, sagte Schimmel nachdenklich. „Plum schenken wir eine Sparbüchse“. Sie hatte eine entdeckt, die ganz lustig war. Man konnte Zehnpfennigstücke hineinwerfen, und vorn zeigte eine Uhr an, wieviele darin waren.
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