Lise Gast
Helmi und ihr grösster Wunsch
Eine Mädchengeschichte
Saga
Helmi und ihr grösster Wunsch
© 1953 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509548
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
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Krach, reißt das Schuhband. Helmi gibt einen Laut von sich, der zwischen Fauchen und Schnarchen liegt – es klingt so komisch, daß Wulf in seinem Bettchen drüben laut auflacht. Und da kann Helmi nicht anders und lacht mit. Wulf hat solch ein ansteckendes, süßes Lachen, der dreijährige Knirps. Helmi läßt das abgerissene Band fallen und springt zu dem kleinen Bruder hin, kitzelt und rollt ihn und schilt:
„Lachst du mich aus? Wirst du wohl! Dabei muß ich fort!“
Sie muß wirklich fort. Die Kuckucksuhr im Kinderzimmer zeigt gleich sieben, und um acht beginnt die Schule. Gefrühstückt muß auch noch werden. Wer rechnet auch damit, daß ein ledernes Schuhband reißt!
Fünf nach sieben. Helmi weiß, daß alle Uhren im Forsthaus vorgehen, sie will es aber nicht wissen. Wenn man zurückrechnet, nützt es einem nicht. Höchste Zeit, los!
„Wiedersehen, Wulf! Heut nachmittag fahren wir Schlitten!“
Sie saust aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Mutter steht in der Küche und hat eben das Frühstückspäckchen fertiggemacht, das Helmi mitnimmt. Die Suppe steht schon auf dem Tisch. Helmi löffelt hastig drauflos.
„Nimm dir Zeit, sonst bekommt es dir nicht“, mahnt die Mutter. Sie sagt das jeden Morgen. Wenn man wie Helmi zwölf Jahre alt ist, hört man solche Wiederholungen nicht mehr.
Helmi schlingt. Sie ist immer in Fahrt, nicht nur, wenn es nötig ist und sie eilig zur Schule muß. Kein Wunder also, daß nichts bei ihr ansetzt.
Die Mutter bekommt einen flüchtigen Kuß, nachdem Helmi aufgegessen hat. Nelly, die Langhaardackelin, die mit hinausschlüpfen will, wird zurückgescheucht. Dann donnert die Haustür ins Schloß. Helmi ist lauter als drei Jungen, sagt die Mutter mitunter.
Jetzt trabt sie den Weg zur großen Straße hinauf. Wenn es viertel nach sieben ist, muß sie traben, auch bergauf. Jetzt, im Winter, kann sie nicht den verschwiegenen und vielverschlungenen Waldpfad laufen, der etwas abkürzt; sie muß der großen Straße folgen. Das ist weiter, aber im Wald liegt der Schnee zu tief. Heute wird es lustig in der Schule. Sie wollen im Werkunterricht Larven für Fastnacht machen. Fein, daß der Lehrer so was kann und einem beibringt. Helmi geht überhaupt gern zur Schule, obwohl sie nicht gerade zu den Besten zählt; dazu ist sie zu schusselig. Sie faßt rasch auf, aber ihre Arbeiten wimmeln von Leichtsinnsfehlern. Schade, daß Wulf noch nicht mitgeht, dann wäre der Weg nicht so langweilig. Jeden Tag allein die weite Strecke hin und her, manchmal sogar zweimal am Tage ...!
Als sie in die große Straße einbiegt, die von Blankenrode nach Espenhain führt, bremst da gerade ein Wagen. Es ist ein Opel Olympia, sie erkennt ihn an den eingelassenen Scheinwerfern, ein schöner, neuer Wagen. Der Fahrer kurbelt die linke Scheibe herunter und winkt Helmi heran. Hier fahren selten Autos.
„Nach Mittelwald?“ fragt er. Helmi nickt und weist den Weg hinunter, den sie eben heraufgekommen ist. Das Haus kann man von hier aus nicht mehr sehen. – „Noch weit?“
„Gar nicht. Kommen Sie zu uns?“ fragt Helmi. Ihre Augen verschlingen den Fremden förmlich vor Neugierde. Er ist groß und dick, sein Bauch reicht bis ans Steuerrad heran. Aber nette Augen hat er hinter der Brille und ein verschmitztes Lachen darin.
„Zu Revierförster Thomas, jawohl. Dann bist du wohl die Wilhelmine?“ fragt er.
Helmi nickt, obwohl sie den Namen nicht leiden kann. Vater heißt Wilhelm, so wurde sie nach ihm genannt.
„Ich werde aber Helmi genannt“, erklärt sie deshalb gleich. Sie ist an den Wagen herangetreten und guckt durch die Scheibe hinein. Fein ist der Olympia auch innen, sogar eine Uhr hat er am Armaturenbrett.
„Geht die richtig?“ fragt sie.
„Genau. Nach Radio.“ Er dreht an einem Knopf, und schon erklingt lustige Musik.
„Wunderbar“, sagte Helmi noch andächtig. Dann aber reißt sie sich los.
„Muß fort. Wiedersehn!“
Der Fahrer sieht ihr nach, wie sie die Straße hinaufrennt, in ihrem dunkelblauen Trainingsanzug mit der roten Mütze, unter der blonde, nicht allzu lange und unten schon wieder aufgegangene Zöpfe herausschlenkern. Helmi wird kleiner, verschwindet. Er lächelt ein wenig. Das Mädchen ist ein netter bunter Fleck inmitten des weißen Waldes.
Er selbst hat keine Kinder. Wenn ein kinderlieber Mann viel zu tun hat, bleibt ihm wenig Zeit, darüber nachzugrübeln. Begegnet er aber in aller Morgenfrühe und unvermutet einem gesunden und springlebendigen Kind, so einem wie dieser Helmi, dann wird er wieder daran erinnert ...
Werkunterricht in den letzten zwei Schulstunden des Tages bedeutet eigentlich, daß man nicht sehr pünktlich fortkommt. Da muß das Klassenzimmer noch ausgefegt und alles aufgeräumt werden, und man schließt auch nicht so genau mit dem Glockenschlag wie nach einer Rechen- oder Erdkundestunde, weil es so schön war. Heute aber meldet sich Helmi nicht zum Nachräumen. Während sie ihren Ranzen vollstopft, um schnell fortzukommen, schiebt sich Wilma heran.
„Du kannst bei uns essen, hat Mutter gesagt. Weil wir doch heute nachmittag Flötenstunde haben. Magst du?“
Helmi guckt hoch. Wilma ist ein lieber Kerl und wäre sicher ihre Freundin, wenn sie nicht so weit auseinander wohnten. Trotzdem schüttelt sie den Kopf.
„Heute nicht. Wir haben Besuch. – Was gibt’s denn?“ fragt sie aber doch noch. Wilmas Mutter kocht „technisch“, wie augenblicklich der Lieblingsausdruck für alles Großartige lautet. Alles ist technisch, was einem gefällt, ein Opel Olympia genau wie ein Wurf junger Ferkel.
„Hefeklöße. Eben deshalb“, sagt Wilma bittend. Helmi ist betrübt.
„Schade! Die ess’ ich so gern. Danke, du. Aber ich muß ...“
Hoffentlich stimmt’s auch mit dem Besuch, denkt sie, während sie heimwandert. Aber wenn es nur ein Holzhändler oder irgend so ein langweiliger Kerl wäre, hätte er nicht ihren Namen genannt. Wilhelmine – am Ende ist es ihr Patenonkel Adrian, den sie noch nie gesehen, von dem sie aber mitunter herrliche Sachen geschenkt bekommen hat, in Paketen, die weder zu Weihnachten noch zum Geburtstag, sondern ganz unregelmäßig eintreffen, manchmal häufig, dann wieder zwei Jahre lang nicht. Der Märchenonkel Adrian – Helmi fängt schon wieder an zu laufen. Das wäre allerdings technisch, wenn er das wäre!
Er ist es wirklich, sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa und lacht ihr entgegen. Es ist wahrhaftig Onkel Adrian, sie hat richtig vermutet. Er zieht sie zwischen seine Knie und guckt sie sich genau an.
„Weißt du, wer ich bin?“
„Mein Patenonkel“, antwortet Helmi. Er nickt.
„Und mir hat er das Auto mitgebracht, sieh mal, Helmi!“ ruft Wulf und läßt ein buntlackiertes, wunderschönes, mindestens dreißig Zentimeter langes Holzauto unter dem Tisch hervorfahren. Helmi streift es mit einem Blick, der Onkel hält sie noch immer fest, so daß sie sich nicht umwenden kann.
„Ja. Und dir hab’ ich nichts mitgebracht, aber das hat seine guten Gründe, Helmi. Bei kleinen Jungen ist es leicht zu erraten, was ihr Herz beglückt – ist ja noch nicht lange her, da war man selbst noch einer. Aber bei jungen Damen ...“
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