Schimmel huschte ins Bad und wurde nun völlig munter. Es war doch wieder ein herrliches Gefühl unter der Dusche zu stehen. Rasch die Haare durchgebürstet und hinüber zu den Kleinen! Na, das würde ein Theater geben, ehe man die wach bekam! Sie mußten hinterher wieder ins Bett, sonst würden sie überall nur Unheil anrichten. Schimmel ahnte dumpf, daß dieses „Ins-Bett-müssen“ wesentlich schwieriger sein würde als das an sich schon mühsame „Ausdem-Bett“. Denn wenn die Mädel erst einmal wach waren, waren sie meist allzu wach.
Brita zeigte sich am nachgiebigsten. Sie rutschte gutwillig aus dem kurzen Kinderbett und knotete sich die aufgegangenen Zöpfe im Nacken zusammen. Plisch knurrte wütend, als ihr Schimmel das Deckbett wegzog, und Plum fing sogar an zu weinen. Aber Plums Blockflöte war nicht zu entbehren; Schimmel bemühte sich, die Schwester durch gute Worte zu ermuntern, obwohl sie selbst etwas ungeduldig war.
Endlich standen sie alle zusammen im Flur, die Kleinen in den Nachthemden, Mutter im Bademantel, nur Schimmel angezogen. Du großer Schreck, jetzt hatte sie doch wirklich die Rosen vergessen!
Sie stürzte davon. Zum Glück war die Haustür schon offen. Der Rasen vor dem Haus war weiß betaut, und eine herrliche Luft schlug ihr entgegen. Ach, man konnte ja an einem so schönen Morgen nicht schlechter Laune bleiben!
Sie lief über das Rondell zu den Rosen, pflückte nur drei, die noch halbgeschlossen waren. Ihr war, als sehe sie zum erstenmal, wie überirdisch schön solche Knospen sind. Die Blätter wie zart gefaltet, mit silbernen Perlen an den Spitzen.
Ganz vorsichtig und beinahe feierlich kam sie zurück, die Rosen in der Hand, und es war, als würden die andern von ihr angesteckt. Sie zankten sich nicht mehr halblaut und stießen sich nicht gegenseitig um den angeblich besten Platz, sondern stellten sich lautlos vor Großvaters Tür auf, und dann gab Mutter den Ton an.
Großvaters Lieblingschoral: „Bis hierher hat mich Gott gebracht.“ Eigentlich müssen Choräle wohl tief und stark gesungen werden, aber das ging mit den Kinderstimmen nicht. Sie hatten ihn dreistimmig eingeübt, Mutter sang dritte Stimme, Schimmel zweite, und am schönsten klang der Gesang von Brita und Plisch, die zart und silbern die erste Stimme sangen, gehalten von Plums Flöte. Es klang so, wie die Luft draußen war und die Rosen, die Schimmel in der Hand hielt, neu und jung und zukunftsgläubig und dankbar. Schimmel fühlte, wie ihre Stimme zu schwanken begann. Es ging ja nicht nur Großvater an, dieses Lied: „Bis hierher hat mich Gott gebracht mit seiner großen Güte!“
Sie sangen drei Strophen. Dann, als sie schwiegen, ging die Tür auf und Großvater trat heraus. Er stand einen Augenblick im Licht der hinter ihm durchs Fenster fallenden Sonne; man sah nur seinen Umriß, golden überstrahlt. Schimmel ging ihm einen Schritt entgegen, und dann tat sie etwas, was sie noch nie getan hatte und was in der Familie eigentlich nicht üblich gewesen war: sie küßte ihm die Hand. Und auf die alte, ein wenig runzlige und doch noch starke Männerhand fiel ein warmer Tropfen.
Großvater beugte sich zu Schimmel hinunter und küßte sie auf die Wange.
„Danke“, sagte er leise, „danke. Ihr meine Lieben, Lieben ...“ er schwieg. Dann warf Plisch sich ihm an den Hals, und die andern folgten. Großvater hob Johannes zu sich auf, den kleinen, dummen und nichtsahnenden Jungen, der den Namen des ältesten Sohnes trug, der auch Großvaters Name war, Johannes Goetz.
„Das habt ihr wunderbar gemacht, wirklich wunderbar“, sagte Neuchen und mußte sich geräuschvoll die Nase putzen; „ihr seid eine großartige Bande. Nein so was, niemand hätte im Leben daran gedacht, ich jedenfalls nicht. Jetzt aber wollen wir frühstücken, ganz unter uns, nur wir, ehe der Strom der Gäste hereinbricht.“
Schimmel und Brita liefen und sprangen. Es war noch früh am Morgen, und ehe die Mamsell und die Mädchen auftauchten, war das Feuer schnell in Gang gebracht, in einer Viertelstunde duftete es bereits bitter und stark nach Kaffee, und Neuchen erschien mit einer Riesenplatte Kuchen.
„Ich wollte ihn ja erst am Nachmittag anschneiden; aber nun muß ich es doch jetzt schon tun. Kommt, kommt. So schön haben wir es den ganzen Tag nicht wieder!“
Sie hatte wirklich recht! Jetzt war das Eßzimmer durchflutet von einer hellen, silbernen Sonne, und vor Großvaters Platz stand ein schönes Glas, in dem die drei Rosen funkelten.
„Schimmel, mein Kind“, sagte der Großvater leise, als sie alle schon fröhlich gegessen und getrunken hatten, „drei Rosen hast du mir gebracht. Drei Kinder habe ich gehabt. Maria lebt noch. Euer Vater ist gefallen, er lebt in Uli fort, mit dem Namen, und, so Gott will, auch im Geist. Johannes, mein ältester ist in Rußland vermißt, niemand weiß von seinem Schicksal. Vielleicht lebt er noch –“ Großvater schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er ruhig und in seiner milden, gütigen Art fort: „Ob er lebt oder nicht, ihr habt euern jüngsten Sohn nach ihm genannt. Aber nicht nur in den Söhnen und in den Namen lebt das Blut der alten Familie, auch in den Enkelinnen, Schimmel und Brita, Petra und Claudia.“
Sie schwiegen alle.
„Daß ihr da seid und da bleibt, nie werde ich dankbar genug sein können“, schloß Großvater still und legte seine Hand auf die seiner Schwiegertochter. –
Es wurde ein unruhiger Festtag. Alle halfen nach Kräften, auch Schimmel und Brita taten, was sie konnten; aber es gab doch eine Anzahl schwieriger Situationen. Denn es kam viel Besuch. Die ganze Umgebung wallfahrtete nach Holdershausen, und die Kleinen liefen unbeaufsichtigt dazwischen umher. Johannes war eine Zeitlang verschwunden; Brita fand ihn schließlich in der Speisekammer, wo er Kuchen und Wurst in sich hineinstopfte. Sie schalt und führte ihn ab, während Neuchen nur lachte. Mochte der Bengel nur essen! Am Nachmittag kam Uli; er war mit dem Rad gefahren und wollte am Abend wieder fort, aber dagewesen wollte er eben doch sein. Er brachte einen Aufsatz mit, für den er einen ersten Preis erhalten hatte. Der Aufsatz war sogar gedruckt und honoriert worden.
Mitten in die Aufregung hinein, die diese Neuigkeit verursachte, platzte neuer Besuch, sehr zu Schimmels Ärger, denn sie fürchtete, daß Ulis Verdienst dadurch geschmälert werden könnte. Uli selbst jedoch war es viel lieber so, wie man deutlich merkte; er war kein Mensch, der mit seinen Erfolgen „angab“. Daß er Großvater gerade an diesem Tage eine Freude hatte machen können, freute ihn, damit aber auch genug.
So ging der Nachmittag hin. Man tanzte viel, denn es kam viel neuer Besuch; auch Neuchen tanzte manchen Walzer und Rheinländer.
Schimmel dachte mit Kummer daran, daß Uli bald wieder aufbrechen müßte. Viele Kilometer lagen vor ihm, und er sollte am anderen Morgen wieder in der Schule sitzen.
„Mache dir keine Gedanken, die Nacht ist lang“, sagte er, „und dann ist’s auch kühler. Einen so schönen Tag muß man genießen. Hast du übrigens mit Mutter gesprochen? Was sagt sie denn zu unserm Plan mit der Harzburger Schule?“
Sie tanzten gerade den Walzer „Die schöne blaue Donau“, linksherum und rechtsherum, Schimmel sah im Drehen zu ihm auf.
„Ich habe noch nichts davon gesagt, so feige bin ich. Ich konnte nicht. Es kam dauernd was anderes, und Mutter ist ja den ganzen Tag draußen. Abends hat sie dann noch so viel mit Großvater zu besprechen. Ich hoffte, du würdest einspringen und mir das abnehmen.“
„Heute schwerlich“, sagte Uli – sie tanzten immer noch –. „Du, Schimmel, in den Ferien habe ich was vor, ich will mit ein paar anderen und Gerstenberg eine Radtour machen. Es kostet Mutter nichts, ich habe doch Geld verdient. Es geht nicht einmal alles dabei drauf. Natürlich nicht die ganzen Ferien.“
„Das wird sicher sehr schön für dich“, sagte Schimmel leise, ohne aufzublicken; sie war enttäuscht, denn sie hatte sich so sehr auf die Ferien mit Uli gefreut; aber das wollte sie nicht merken lassen. „Fahrt ihr gleich von dort aus los?“
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