Lise Gast
Grosse Schwester Schimmel
Mädchenroman
Saga
Grosse Schwester Schimmel
© 1965 Lise Gast Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509463
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Eigentlich hätte Schimmel mit der Bahn fahren sollen, um die beiden kleinen Zwillingsschwestern aus dem Kinderheim abzuholen und nach Hause zu bringen; nun aber saß sie auf dem Rad und rollte die Landstraße entlang. Die Mutter war zuerst mit dem Plan nicht ganz einverstanden gewesen, obwohl Schimmel ihr die Billigkeit des Radfahrens immer wieder vorgehalten hatte, schließlich aber hatte sie die Fahrt genehmigt, um ihrer großen Tochter nicht die Freude zu verderben. So würden die Zwillinge also nicht eigentlich abgeholt, sondern in Harzburg nur mit den von Schimmel gepackten Koffern in die Bahn gesetzt werden; aber weil die Bahnfahrt ohne Umsteigen möglich war, würde man die beiden Zehnjährigen schon allein nach Holdershausen reisen lassen können, und Schimmel machte eine vergnügliche Sommerfahrt.
Schimmel – eigentlich hieß das sechzehnjährige Mädchen zwar Inge, jedoch ihre weißblonden Haare hatten ihr schon als kleinem Kind den Spitznamen eingebracht, der nun seit langem ihren schönen Rufnamen völlig verdrängt hatte, sie strampelte die Landstraße entlang, bis sie Hunger bekam. An einer Straßenkreuzung setzte sie sich an den Graben und betrachtete, ein Wurstbrot kauend, die Landkarte. Ja, sie würde doch zu Uli, dem älteren Bruder im Landerziehungsheim, fahren. Eigentlich war der Umweg nur ein Katzensprung; und sie mußte über sich selbst lachen, weil sie noch zögerte; denn im Grunde war ihr Entschluß ja längst gefaßt gewesen. Zu Hause schon!
Er war zwei Jahre im Internat, der Uli; noch ehe die Mutter und die übrigen Geschwister nach dem Krieg eine rechte Heimat gefunden hatten, war er dorthin gekommen. Jetzt lebten sie in Holdershausen, der Heimat ihres gefallenen Vaters, bei den Großeltern auf dem Gut. Großvater war so lieb und gütig, und „Neuchen“ ein wahres Prachtexemplar. Obwohl sie gar nicht großmütterlich war, nicht die Spur, dabei war sie ja auch nicht die richtige Großmutter, sondern die zweite, die „neue“ Frau von Großvater, viel jünger als er und so liebenswert in ihrer rheinländischen Lebhaftigkeit! Neuchen war es auch gewesen, die Schimmel zugeredet hatte, die Zwillinge aus dem Kinderheim zu holen, damit alle Kinder, außer Uli, wieder daheim beisammen wären. Ursprünglich hatte der „Familienrat“ beschlossen, die beiden Kleinen in ein Heim zu stecken, um nicht alle Kinder auf einmal auf die armen Großeltern loszulassen. So waren bisher nur Schimmel, Brita, die mit ihren zwölf Jahren schon zu den Großen zählte, und Johannes nach Holdershausen gekommen. Johannes, der kleine Punkt, hatte sich sofort bei Großvater einen ersten Platz im Herzen gesichert. Ach, er hatte viel entbehren müssen, in den fünf Jahren seines Lebens, infolge Krieg und Hunger, durch den Verlust des Vaters. – Was würde aus ihnen allen einmal werden?
Schimmel war wieder aufgestiegen und radelte, in Gedanken versunken, der kleinen ehemaligen Herzogsstadt zu, in der Uli wohnte. Plötzlich mußte sie über ihr eigenes sorgenvolles Herz lachen. Mutter hatte schon recht: Wer keine Sorgen hat, macht sich welche. Freilich kam das wohl auch daher, daß Mutter sich vielleicht zu wenig Sorgen machte. Mutter sagte bei allem: Das wird schon gehen! – und darüber ärgerte sich Schimmel oft. Aber das war dumm, wie sie sich jetzt wieder einmal klar machte, jetzt, da sie über die trockene Landstraße dahinrollte, ohne unmittelbare Sorgen, den Geschwistern entgegen, satt gegessen und in ihrem neuen Dirndelkleid, das so hübsch geworden war mit weißen bauschigen Ärmeln und einem roten Rock, der weithin wie ein Fanal des Sommers leuchtete. Es würde schon alles gut gehen. Schließlich war sie selbst auch noch da und sie würde die Zwillinge schon im Schach halten, damit sie Neuchen und den Großvater mit ihrer Lebhaftigkeit nicht verärgerten.
Schimmel hatte ein starkes Tempo vorgelegt und fuhr am zeitigen Nachmittag in die kleine Stadt ein, fragte sich nach Ulis Schule durch und stieg an einer Straßenecke vor dem Heim der Jungen vom Rad, um sich ordentlich zu machen. Uli sollte durch seine Schwester nicht blamiert werden, sagte sie sich, als sie in den Spiegel sah. Ihr weißblondes Haar ringelte sich ein bißchen zu wild um das Gesicht. Sie versuchte, es glatt zu streichen. Ihre Backen waren jetzt nach der Fahrt rot wie Klatschmohn, leider rot und nicht braun. Schimmel gehörte zu der Sorte Menschen, deren Haut immer nur rot wird, während Uli sozusagen am ersten Sonnentag des Jahres braun wurde, haselnußbraun. Ach ja, beneidenswert war das, aber man konnte es nicht ändern, und schließlich: geradezu häßlich war sie nun auch wieder nicht. Mit sechzehn ist jeder Besen hübsch, sagte Neuchen immer. Übrigens war „Besen“ ein zu harter Ausdruck, alles was recht war.
Das Heim lag mit der Front an der Straße, aber an beiden Längsseiten zog sich ein Garten hin. Weiße Birkenstämme und Gebüsch und ein Rasen, von vielen Jungenfüßen zertreten und zerstampft. Schimmel gab sich einen Ruck und klingelte. Sie mußte sich immer überwinden, ehe sie das erstemal an einem ihr unbekannten Haus klingelte. Ein jüngerer Mann in kurzer Hose und einem Janker öffnete ihr. „Gerstenberg“, sagte er und drückte ihr die Hand so hart, daß sie die Zähne ein bißchen zusammenbeißen mußte. Dann lachte er. Schimmel nannte ihren Namen.
„Ach, das ist natürlich die Schwester von Uli Goetz! Nur herein, wir haben hier gar keine Mädel, da freuen wir uns immer, wenn eins kommt. Ich bin nämlich Ulis Klassenlehrer.“
Das war ein freundlicher Empfang. Gerstenberg rief „Uli!“ durchs Haus, daß es in dem hellen, kühlen Flur hallte, und brachte Schimmel in ein einfach eingerichtetes Besuchszimmer.
Schimmel setzte sich in einen schilfgeflochtenen Sessel und streckte ihre müden Beine lang. Nun merkte sie doch die vielen geradelten Kilometer.
Gleich darauf trat Uli ein; er mußte sich ein wenig bücken, um durch die niedrige Tür zu kommen. Nein, wie unmöglich lang er war! Auch Gerstenberg, der keineswegs klein zu nennen war, wirkte neben ihm wie ein Zwerg.
„Du wächst ja immer noch“, sagte Schimmel statt einer Begrüßung ordentlich stolz. Der Bruder hatte Vaters klares, gescheites Gesicht und Mutters dichtes Haar. „Ich will Plisch und Plum heute abholen und nach Holdershausen befördern, und da habe ich einen Abstecher zu dir gemacht. Mit dem Rad, es ist doch so schön draußen!“
„Die lange Strecke mit dem Rad? Na, großartig, kleines Fräulein“, sagte Gerstenberg. „Sie wollen tatsächlich heute schon weiter? Das ist aber schade, wo doch morgen Sonntag ist und wir so viel unternehmen könnten.“
Er ließ dann die beiden Geschwister allein, die sich nun viel zu erzählen hatten. Seit ihrer frühesten Kindheit bestand ein sehr gutes Verhältnis zwischen ihnen, und Schimmel empfand die Trennung von dem Bruder oft als sehr hart. – Damit Schimmel daheim berichten konnte, wie Uli lebte, durfte sie flink einmal in seine Stube gucken: sechs Doppelbetten, zwölf Spinde, alles nüchtern und einfach; aber seine Mitschüler waren nette und frische Jungen, die alle sehr höflich grüßten, so daß sie etwas verlegen wurde.
Als Gerstenberg wiederkam, versuchte Schimmel zu erklären, warum sie weiter müsse. Sie wurde fast ein bißchen nervös, denn sie fürchtete, daß der junge Lehrer ihre eigenen Pläne über den Haufen werfen könnte. Aber sie mußte unbedingt heute noch den kleinen Harzort erreichen, wo die Zwillinge waren; es gab doch vielerlei zu packen und zu erledigen.
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