Und ich dachte an meine Gäule, und die anderen beiden Gespannführer dachten an ihre Gäule: sie würden nun wieder mehr Hafer für sie bekommen. Doch er blieb weiterhin eingeteilt, und wir mußten wie früher für sie stehlen, um sie einigermaßen im Futter zu haben und sie neben den anderen Pferden im Dorf sehen lassen zu können. Aber ein wenig schämten wir uns: meine waren immer noch stärker und schneller als alle anderen. Nur ihr Fell glänzte weniger, und sie stellten mehr die Beiner hinaus als andere. Das war der Höhepunkt, dann sagte ich dem Bauern, daß ich gehen wolle, und Ludwig sagte es auch. Bauer und Bäuerin waren sehr traurig, doch sie wollten uns nichts in den Weg legen, sagten sie – da werden genug andere Hindernisse auftauchen! Jedenfalls wünschten sie uns Glück – jetzt und in aller Zukunft!
... und wieder von Pferden
Ja, das war eine Lust, mit den Gäulen zu arbeiten. Sie waren nicht nur stark, sondern auch schnell. Öfters trieb ich sie im Galopp aufs Feld oder kehrte von dorther in den Hof zurück – alles im Galopp! Ob voller Wagen oder leerer Wagen. Hier und da ist es auch zu Rennen gekommen mit den eigenen oder fremden Gespannen – immer habe ich, hat mein Gespann gewonnen! Darum habe ich für sie auch zusätzlich Hafer und Heu gestohlen. Die Rationen, die wir jeden Morgen auf der Bühne vom Verwalter empfingen, waren nicht üppig: zuwenig Hafer, und im Hafer auch noch Kleie. Das reichte nicht für die Arbeit, die die Pferde tun mußten. Und ich habe auch schon im Stall bei ihnen geschlafen, habe mit ihnen gesprochen und geschwätzt.
Auf der anderen Seite haben sie mich auch narret gemacht. Sie hatten so Tage, da war ich Luft für sie, und alles, was ich sagte, konnte ich genau so gut verschweigen. Sie hörten es einfach nicht; das ging bei ihnen zu einem Ohr hinein und zum anderen hinaus.
Da erinnere ich mich an eine Geschichte, da habe ich von morgens bis abends Gülle geführt auf die riesigen Weiden. Ich brauchte nur zu fahren, vorne sitzen und die Zügel in der Hand halten; hinten auf dem Wagen war das Stahlfaß, das pumpten andere Knechte auf dem Hof voll. Nur auf den Feldern mußte ich absteigen und den Hahn öffnen, dann wieder aufsitzen und weiterfahren.
Damals waren wir beide narret, die Gäule und ich: sie haben mir nicht aufs Wort gefolgt, und sie mochten von mir kein Wort hören. Trotzdem mußte ja gearbeitet werden: ich mußte lenken, und sie mußten ziehen. Das ging bis zum Mittag mit ihrer Bockerei. Dann hat mich die Wut gepackt. Als das Güllefaß leer war, habe ich die Zügel links angezogen, so scharf, daß es Hella das Maul zerreißen mußte: dann habe ich, was ich sonst nie tat, die Peitsche genommen und die Gäule samt dem Wagen mit mir drauf immer im Kreis in der Weide herumsauen lassen, bis sie müde wurden und folgten. Jetzt erst konnten wir wieder miteinander geschirren. So sind wir dann langsam nach Haus, sie in den Stall, und ich in die Waschküche. Das mußte einmal sein, und sie erfuhren wieder, wer der Herr war.
Ich habe wieder mal das Haus verlassen – nein, nicht zu einem Spaziergang! Sondern um etwas zu suchen; nur was ich suchte, das wußte ich nicht. Vielleicht wollte ich insgeheim zu Lehrer Hofer. Ich hatte auch schon die Richtung eingeschlagen. Doch dann schwenkte ich zmal ab und landete auf dem Kirchhof. Und da – was zog mich dahin? Laß die Toten den Toten, heißt es. Ach, wenn das so einfach wäre. Tot ist doch nicht bloß tot. Auf eine Art leben alle Toten weiter – in der Erinnerung; in ihren Taten, die sie zu Lebzeiten vollbracht haben. Alle, wirklich alle? Auch die Tausende, die Millionen von Grafeneck und sonstigen Lagern? Ja, das glaube ich! Und eine Zeitlang leben die Toten sogar auf ihren Grabsteinen, die ihnen freilich Lebende gesetzt haben.
Ach, wenn das immer so leicht wäre, zu unterscheiden, wer lebt und wer wirklich tot ist. Man kann auch vor dem Tod tot sein und dann nur noch auf das Datum warten. Zwiefalten zum Beispiel: Da siehst du Leute, die fegen Jahr um Jahr immer die gleiche Stelle im gleichen Flur. Mit dem gleichen Besen. Nur der Besen nutzt sich allmählich ab und wird irgendwann einmal ausgetauscht, und vielleicht sind eines Tages auch die Leute ausgetauscht. Aber das merkst du nicht, weil die alle gleich aussehen, den gleichen Gesichtsausdruck haben – und die gleiche Freude am Leben. Ja, das glaube ich auch: die haben alle Freude am Leben, nur können sie es nicht so offen zeigen wie wir andern. Wir? Andere?
Dann stehe ich plötzlich auf dem Burgberg und schaue hinab, schaue hinab auf das Dorf im Tal und hinüber auf das kleine Dorf von meinem Ähne und meiner Ahna. Wenn es für mich Unvergängliches gibt – jenseits von Leben und Tod, dann ist es das: diese beiden Dörfer; dieses Tal, diese Berge und Wälder, und es ist die Kirche, und es ist das Rathaus. Und es ist auch die Schule, obwohl ich sie nie besucht habe. Wie frei und selbstbewußt sie neben der Kirche steht! Ja, sie darf das; sie darf sich als einzige erheben neben der Kirche. Nicht die Fabriken; nicht ihre Kamine, die frechen!
Das ist die Zeit, in der man etwas ungeduldig wird: die Kirschen sind verblüht, es dauert aber noch, bis die ersten – »balde Kiischa«: Frühkirschen – reif sind. Jetzt ist noch alles grün: die Blätter, das Gras und die Kirschen. Die Kirschen sind hart und so groß wie nachher allein die Kerne. Der Feldschütz? Nein, der kommt auch erst später.
Mein Blick fallt wieder auf die Schule – Adolf-Hitler-Schule oder wie sie in dieser Zeit geheißen hat-, und ich erinnere mich an einen Tag im Jahr 1947 oder 1948. Ich trottle über den Schulhof. Da fliegt ein Flügel der schweren Holztür über dem steinernen Treppenaufgang auf, und eine Horde von Buben springt heraus, wirft ihre Schulranzen die Staffel hinab und rennt selber hinterher. Als sie mich bemerken, ruft einer:
»Komm, Karl, jetzt bischt du uss dr Schual.«
»Waa bee i?« frage ich.
»Du bischt uss dr Schual! Ond miar älle gange jetzt uff da Burgbärg ...«
»Ond waa do dua?« erkundige ich mich, werde aber schon in die Mitte genommen und über die Straße gedrängt. Ein Mordsgeschrei entsteht.
»Do mache miar a Fuiar!« heißt es.
»Waa mache miar do?«
»Dackel! A Fuiar, hosch et ghaert?«
»Jao! Ond waa isch no mit damm Fuiar? Waa kommt do nei?«
»Do kommst du nei, Simpel!«
»Noi; do kommat onsre Schualsacha nei, onsre Hefter ond onsre Biachr. Dia brauch mr jetzt älle nemme. Ond do schmeischt du de deine ao nei.«
»A Biacherverbrennung?« keuche ich den Berg hinauf. »I hao dees Wort amool ghaert. En Berlin hant se so äbbas dao. Ond no hant se ao Leid verbrennt; Juda ...«
»Du Dackel! Haet wand doch koine Juada mae verbrennt; der Krieg ischt aus.«
»Gott sei Dank!«
»Was Gott sei Dank – do nemm dees Schbruchbuach!«
»Ond mei Aufsatzheft«, schreit ein anderer.
Das Feuer brennt, wir stehen drum herum, und allmählich werde ich von der Begeistung angesteckt.
»Flamme empor«, rufe ich und übergebe das erste Heft dem Feuer.
»Halt dei Gosch!« zischt es neben mir.
Ich rieb mir die Augen. Stimmte das oder bilde ich mir das alles nur ein? Sie haben mich aus der Schule entlassen, ohne daß ich je da rein ging, und ich habe für Augenblicke selber daran geglaubt. Und dann habe ich alle meine Unterlagen verbrannt, so daß ich nachher mit leeren Händen dastand. Dann konnte es also wahr sein oder nicht. In keinem Fall war mir geholfen. Aber wie dem auch sei: sie haben mit mir wieder das Michele getrieben. Damit ist es heute aber vorbei.
Und jetzt denke ich wieder an Zwiefalten und an Xaver – und nicht an das Heim, an Edda, an Paul und alle andern! Nur weil ich an die Toten gedacht habe, denke ich noch weiter zurück.
Читать дальше