„Ja, das dürft ihr-ihr!“, sagten ein paar Stimmen hinter ihnen. Da standen die neun Feuxe und schauten sie mit großen Augen an.
In der nächsten Zeit verbrachten Flora und ihre Freunde jeden Nachmittag im Efeuwald. Es war ein ganz perfektes Versteck – ihr großes Geheimnis. Die Kinder machten mit Begeisterung das Efeuhäuschen sauber. Sie entfernten alte Spinnweben, kehrten Staub zur Tür hinaus und putzten die Fensterscheiben. Die alten Möbel, die im Haus herumstanden, waren gut zu gebrauchen. Es gab eine kleine Küche und sogar Kochbücher standen in einem Regal.
Eines Nachmittags fischte Malte das dickste Kochbuch vom Regal und blätterte darin. „Ich koche euch heute eine heiße Beerensuppe“, verkündete er.
„Dürfen wir auch mitessen-essen?“, fragten die Feuxe. Sie standen vor dem Fenster und streckten neugierig ihre Köpfe hinein.
„Ja, wenn ihr die Beeren sammelt“, sagte Malte.
Die Feuxe machten mal wieder große Augen. „Geht nicht-icht“, sagte schließlich ein Feux. „Wir sind beschäftigt-äftigt.“
„Womit denn bitte?“, wollte Flora wissen.
Bisher hatte sie die Feuxe nur als kleine grüne Nichtsnutze erlebt. Während Flora und ihre Freunde das Efeuhäuschen sauber gemacht hatten, waren die Feuxe nur wie verrückt umhergesprungen. Nützlich hatten sie sich jedenfalls nicht gemacht.
„Also, was müsst ihr so Dringendes machen?“, fragte Flora.
„Wir müssen im Wald spuken-uken“, sagten die Feuxe schnell und weg waren sie.
Doch als der Duft von Maltes Beerensuppe durch den Wald zog, kamen die Feuxe plötzlich angewuselt.
Eins war klar. Für heute waren sie mit dem Spuken fertig – genau rechtzeitig.
„Heute ist es so weit“, sagte Frau Boswelia eines Morgens. Augenblicklich waren alle Kinder der dritten Hexenklasse still. „Heute gehen wir ins Magische Tierhaus. Es wird für euch bestimmt spannend zu sehen, was es alles für magische Tiere gibt. In den letzten Monaten hat Turdus Merula viele neue Arten entdeckt.“
Vor dem Magischen Tierhaus ließen die Kinder ihre Blicke die Fassade hinaufwandern. Es war ein schmales, hohes Haus, mit bunten Glasfenstern. Jede Scheibe wurde von je zwei steinernen Vögeln eingefasst. Ihre Schnäbel berührten sich im Giebel der Fenster.
Überhaupt gab es sehr viele steinerne Tiere an dem Haus zu sehen. Da waren Schlangen und Eichhörnchen und Igel und Schwäne und Drachen und Iltisse, Dachse, Kröten, Katzen … Flora betrachtete die Figuren genau. Es sah eigentlich hübsch aus, aber irgendwie machte ihr die Hausfassade ein komisches Gefühl. Es breitete sich in ihrem Bauch aus und fühlte sich brennend an.
„Ich hab Bauchweh“, murmelte Flora.
„Ach, du und dein Bauchweh, Flora“, seufzte Frau Boswelia, die neben ihr stand. „Wahrscheinlich hast du mal wieder nicht gefrühstückt, hab ich recht?“
„Das kommt nicht daher“, begann Flora. Doch dann redete sie nicht weiter, denn Frau Boswelia hatte sich schon dem Eingang zugewandt. Sie ließ die Türglocke schellen, und es dauerte nicht lange, da wurde das große Tor mit einem Knarren geöffnet. Eine schlanke junge Frau mit langen weißgelben Haaren öffnete. Sie hatte freundliche blaue Augen und zahllose Sommersprossen im Gesicht. Ihr weiter langer Rock war mit aufgenähten Birkenblättern geschmückt, und auf ihrem Hut kringelte sich eine zitronengelbe Schlange, die den Kindern lustig zuzwinkerte.
„Willkommen!“, sagte die junge Frau. „Ich bin Betula Alba. Ich leite zusammen mit Turdus Merula das Magische Tierhaus.“
Hinter ihr tauchte Turdus auf und an seiner Seite entdeckte Flora den kleinen schwarzen Drachen. Wie hieß er doch gleich? Estragon!
„Na, dann lasst uns gleich mit der Führung beginnen“, meinte Turdus gut gelaunt. Er ließ die Kinder eintreten und begann dann zu erzählen: „Magische Tiere unterscheiden sich rein äußerlich überhaupt nicht von normalen Tieren. Es ist also gar nicht so einfach herauszufinden, ob ein Tier magisch ist. Magische Tiere haben besondere Fähigkeiten, die unserem Hexenvolk nützlich sind. Der Hexenrat findet es darum wichtig, dass es in der Stadt jemanden gibt, der sich ausgezeichnet mit magischen Tieren auskennt. Und das bin ich.“
„Und ich“, warf Betula ein. „Wir kümmern uns beide um die magischen Tiere.“
„Ja, ja natürlich“, sagte Turdus. Er öffnete eine Tür im Erdgeschoss. Dahinter lag ein Raum mit einem großen Wasserbecken, in dem sieben kleine Drachen planschten. Sie spuckten kein Feuer, sondern Wasser. „Sind die süß!“, flüsterte Flora. Laurus und Malte nickten.
„Diese Wasserdrachen sind die besten Feuerlöscher, die es gibt“, erklärte Turdus. „Wenn sie erst einmal ausgebildet sind, brauchen wir uns in der Stadt niemals mehr vor Feuer zu fürchten. Wir sind durch diese Drachen absolut abgesichert.“ Turdus schien sehr zufrieden. Er winkte schließlich die ganze Klasse wieder hinaus.
Während Flora auf den Gang trat, hörte sie ein raschelndes Geräusch, das von ihrem Hut her kam. Sicherlich verwelkte gerade eine der Blüten, mit denen sie ihren Hexenhut geschmückt hatte. Wenn Flora ein unangenehmes Gefühl hatte, passierte das oft. Und hier lag etwas sehr Unangenehmes in der Luft, das konnte Flora deutlich spüren.
Doch sie hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn nun ging es in den ersten Stock in einen finsteren Raum. Nur hier und da leuchteten ganz hell ein paar Lichtflecken.
„Das hier sind Leuchtkröten“, erklärte Turdus. „Man legt sie tagsüber in die Sonne. Sie speichern das Licht und nachts leuchten sie.“
Stolz nahm Turdus eine der Kröten in die Hand und hob sie hoch, sodass alle sie sehen konnten. „Man kann diese Kröten wunderbar als Taschenlampen verwenden“, fuhr Turdus fort.
„Wie denn?“, fragte ein Hexenmädchen neugierig.
„Ganz einfach“, sagte Turdus. „Man steckt eine Kröte in ein Schilfrohr.“ Er nahm ein dickes Schilfrohr, das auf der Fensterbank lag. Es war etwa so lang wie sein Unterarm, und in das obere Ende des Rohrs steckte er die leuchtende Kröte, sodass nur noch ihr Kopf herausschaute. Turdus reichte nun das Rohr weiter. Ein Kind nach dem anderen nahm es in die Hand.
„Das ist ja oberhexig“, meinte Majoranus. „So eine Taschenlampe hätte ich auch gern. Wo findet man solche Leuchtkröten?“
„Im Moor“, antwortete Turdus.
„Aber da dürft ihr Kinder nicht hin. Niemand darf zum Moor!“, warf Frau Boswelia gleich ein. „Es ist viel zu gefährlich!“
Flora hörte nur mit halbem Ohr zu. Ihr Blick war an der armen kleinen Kröte hängen geblieben, die in dem Schilfrohr steckte und sich nicht bewegen konnte. Sie sah alles andere als glücklich aus. Ihr Leuchten flackerte ein wenig, gerade so als habe sie Angst und würde ein wenig zittern. Flora tat die Kröte leid.
„Herr Merula“, begann sie, „glauben Sie nicht, dass es für die Kröten ganz schön unbequem ist, in so einem Schilfrohr zu stecken?“
Turdus hob erstaunt die Augenbrauen. „Bequem? Muss es denn für sie bequem sein? Leuchtkröten sind magische Tiere, und magische Tiere sind dazu da, unserem Hexenvolk zu dienen. Der Hexenrat hat mir das Amt übertragen, mich um die magischen Tiere zu kümmern und sie alle auf ihre Fähigkeiten hin zu prüfen. Das ist eine sehr ehrenvolle Aufgabe! “
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