Flora legte den Kopf schief. „Die schwere Jacke wird dich beim Fliegen bremsen“, meinte sie.
Der Junge riss die Augen auf. „Du hast völlig recht, danke!“ Im nächsten Augenblick rief er: „Lilia, komm mal her!“
Ein kleines Hexenmädchen kam angerannt. Es hatte genauso zerzaustes blondes Haar und dunkle, lebhafte Augen wie der Junge und nahm ihm die schwere Strickjacke ab.
„Das war eine meiner fünf Schwestern“, erklärte der Junge. „Ich heiße übrigens Laurus Nobilis, ich bin neu hier im Hexenstädtchen. Meine Familie ist in den Sommerferien hierhergezogen.“
„Ich bin Flora Floribunda“, sagte Flora.
„Macht euch bereit, Teilnehmer!“, rief die Oberhexe nun. „In wenigen Augenblicken ertönt der Startpfiff!“
Floras Herz begann, ganz heftig zu schlagen. Sie umklammerte den Besenstiel und sah sich noch einmal um. Der blonde Junge lächelte ihr freundlich zu und sie lächelte zurück.
„Achtung, fertig … LOS!“ Ein Pfiff schrillte durch die Luft, Flora stieß sich kräftig mit den Füßen vom Boden ab und der Besen schoss empor.
Flora lehnte sich weit nach vorn und fühlte den Wind über ihren Rücken zischen. Vor ihr flogen ein paar Hexen, neben ihr ebenfalls, es war alles sehr eng und Flora musste gut aufpassen. Laurus war eine Zeit lang neben ihr, aber dann hatte sie ihn aus den Augen verloren. Nun kam das erste Hindernis: sieben Trauerweiden, die ganz dicht beieinanderstanden. Man musste so schnell wie möglich durch die hängenden Zweige hindurchfliegen. Das war gar nicht so einfach, denn die Weiden waren von der Oberhexe verzaubert worden und plötzlich begannen sich alle Baumkronen zu drehen wie Karussells. Die Weidenzweige rauschten im Kreis und strichen einem weich übers Gesicht. Man wurde ganz taumelig davon, und nicht wenige der Hexen wussten plötzlich nicht mehr, in welche Richtung sie fliegen sollten. Flora zog die Schultern hoch und kniff die Augen fest zusammen. Einfach geradeaus durch, sagte sie sich immer wieder. Schließlich hatte sie es geschafft. Sie spürte keine Weidenzweige mehr und öffnete die Augen.
Majoranus, der Sohn des Zeitungsmachers, flog jetzt vor ihr. „Das war lächerlich einfach“, rief er Flora großspurig zu. Flora schnalzte mit der Zunge und ihr Besen wurde schneller. Im Flitzeflug überholte sie Majoranus, doch der gab ebenfalls Gas und eine Weile waren beide Besen Stiel an Stiel. Dann fiel Majoranus ein bisschen zurück, blieb aber immer dicht hinter Flora.
Weiter ging’s den Fluss entlang über die Schafweiden bis zu den Donnerfelsen. Als Flora die Felsen erreicht hatte, tauchte ein Hexer mit langen unordentlichen Haaren neben ihr auf. Sein dunkelgrauer Umhang flatterte wie ein knatterndes Segel hinter ihm her. Flora wusste sofort, wer das war: Turdus Merula, der bekannte Leiter des Magischen Tierhauses!
Der Hexer flog immer dichter an Flora heran, sodass sie kaum noch Platz hatte. Links neben ihr ragte die steile Felswand auf! Fast hätte Flora den Stein mit ihrem Ellenbogen gerammt. Konnte Turdus denn nicht aufpassen? „Heee!“, rief sie empört aus. Aber Turdus schien sie nicht zu hören und auch nicht zu sehen. Sie musste ihn wohl oder übel an sich vorbeilassen. Nun flog er vor ihr und Flora ärgerte sich. Das war doch Absicht gewesen!
Aber ihr blieb nicht viel Zeit zum Grübeln, denn wenig später ragten spitze Felsen, hoch wie Türme, vor ihnen auf. Im Zickzack musste man zwischen ihnen hindurchfliegen. Flora legte sich ordentlich in die Kurven und rauschte so an allen Hindernissen vorbei. Nach der letzten Felsenspitze blickte sie einmal kurz über ihre Schulter. Hinter ihr war nun niemand mehr zu sehen. Nur ein Stück weiter vorn erkannte Flora Turdus.
Flora streichelte sanft über das Holz des Besenstiels. „Lieber, guter Besen, flieg, so schnell du kannst. Gib alles!“ Floras Besen zischte rasend schnell durch die Luft.
Beim letzten Hindernis lag sie mit dem Hexer fast gleichauf. Eine Grotte tat sich vor Flora auf. Sie steuerte ihren Besen direkt darauf zu, doch der bäumte sich plötzlich auf und wich zur Seite. „Jetzt komm schon“, rief Flora ungeduldig. Noch mal lenkte sie ihren Besen auf den Grotteneingang zu und diesmal flog er in die kohlschwarze Grotte hinein. Es war so dunkel. Flora konnte nicht die Hand vor den Augen sehen. Und es war laut. Von überall hörte man es tropfen und es hallte von den Höhlenwänden wider. Sie wusste, dass die Grotte sehr groß und breit war, und hatte daher keine Angst, an den Wänden anzustoßen. Trotzdem spürte sie ab und zu, wie etwas sie am Arm oder Kopf streifte. Waren das Fledermäuse oder die anderen Hexen, die an ihr vorbeiflogen? Flora biss die Zähne zusammen und endlich sah sie Licht. Sie war am anderen Ende der Grotte angekommen!
Vor ihr breitete sich die große Mohnblumenwiese aus. Ab hier kamen keine Hindernisse mehr, es ging nur noch um Schnelligkeit.
„Los, jetzt ganz schnell weiter bis zum Ziel“, rief Flora. Der Besen bäumte sich noch einmal leicht auf und flitzte dann los. Flora schaute ein letztes Mal über ihre Schulter. Sie konnte niemanden sehen. Auch vor ihr war keiner mehr.
Komisch, wo waren alle nur hin? O du liebe Kreuzspinne, was, wenn schon alle anderen längst im Ziel waren? Was wenn sie die Letzte werden würde? O nein, wie peinlich, das durfte einfach nicht sein! Flora schmiegte sich ganz eng an ihren Besenstiel und flitzte, so schnell sie nur konnte, auf das große Spinnennetz zu. Komisch, das Netz war noch ganz. Es war nicht zerrissen. Im selben Augenblick, als Flora durch das große glitzernde Spinnennetz flog, begriff sie, was das bedeutete. Und da jubelte auch schon die Menge los.
„Wir haben die Siegerin!“, rief Punica Granata, die Oberhexe. „Flora Floribunda hat es geschafft! Sie ist die schnellste Besenfliegerin des Jahres!“
Flora hatte ihren Besen zum Stehen gebracht. Sie zitterte am ganzen Körper. Jetzt erst bemerkte sie, wie sehr sie sich angestrengt hatte. Nach und nach sausten immer mehr Hexen ins Ziel und dann spürte Flora einen Kuss von ihrer Mama auf der linken Wange und einen Kuss von ihrer Omimi auf der rechten Wange. Und plötzlich wurde sie hochgehoben und ein paar Hexenjungen stemmten sie auf ausgestreckten Armen in die Luft.
Flora strahlte. Sie konnte es kaum glauben. Sie war Erste geworden – mit großem Abstand! Sie hatte gewonnen!
„Die Siegerehrung findet in wenigen Augenblicken unter den drei Birken statt“, verkündete die Oberhexe.
Alle, die beim Besenwettfliegen mitgemacht oder zugesehen hatten, versammelten sich unter den Bäumen.
„Wir gratulieren unserer Gewinnerin, Flora Floribunda, acht Jahre!“, ertönte die Stimme der Oberhexe. „Flora hat zum ersten Mal am Besenwettfliegen teilgenommen und gleich den ersten Platz gemacht!“ Es wurde heftig applaudiert und man hörte Freudenpfiffe und Floras Name wurde immer wieder gerufen. Die Menge jubelte vor Begeisterung. Flora wurde erneut hochgehoben und auf das Siegerpodest in der Mitte gestellt. Punica Granata trat an Flora heran und hängte ihr eine Medaille um und dann setzte sie ihr einen geflochtenen Kranz aus Lorbeerblättern auf den Kopf.
Flora konnte gar nicht aufhören zu grinsen. Sie sah sich um und entdeckte in der Menge die stolzen Gesichter von Mama und Omimi. Hille flatterte in der Luft neben ihnen und klatschte wie wild.
„Wir gratulieren Turdus Merula zum zweiten Platz“, ließ sich die Oberhexe vernehmen.
Turdus bestieg die Stufe links neben Flora. Er hatte einen kleinen dicken Drachen dabei. Dunkelgrau glänzend war der und seine Rückenschuppen schillerten in allen Farben. Der Drache tapste schwerfällig hinauf auf die gestapelten Kisten und stellte sich neben Turdus. Er wirkte wie ein Hund, der treu seinem Herrchen überallhin folgt. Turdus wandte sich Flora zu und streckte ihr die Hand entgegen. Flora nahm sie recht erstaunt und Turdus schüttelte ihre Hand sehr kräftig, es tat beinahe ein bisschen weh. Flora überlegte für einen Moment, ob sie Turdus wegen des unfairen Flugmanövers am Donnerfelsen zur Rede stellen sollte. Doch da trat schon die Oberhexe zu ihnen und hängte auch Turdus eine Medaille um. Flora schluckte ihren letzten Ärger über den Hexer hinunter. Schließlich war jetzt alles gut!
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