Dein Berthold.“
Joe Jenkins nickte gedankenvoll, faltete den Brief zusammen und gab ihn der Dame zurück. „Was geschah weiter?“
„Lange überlegte ich, ob ich in diesem Geschäft bleiben sollte. Aber ich hatte das Gefühl, es meinem Verlobten schuldig zu sein, auf dem Posten auszuharren.“
„Und Herr Molenbroek kam?“
„Am übernächsten Tage hielt er seinen Einzug. Er lüftete nur leicht den Hut und sagte mit seiner heiseren Stimme: ‚Sie wissen wohl, dass ich jetzt hier der Herr bin.‘ Dann ging er in sein Privatkontor hinüber.
Schon um sieben Uhr ging er wieder. Kurz vorher redete er mich an, immer in seiner verletzenden hoffärtigen Manier, den Kopf zur Seite gewandt, die Augen hinter seiner blauen Brille auf irgendeinen Gegenstand im Zimmer gerichtet.
‚Sie werden jeden Morgen meine Wünsche auf einem Zettel vorfinden,‘ sagte er kalt. ‚Ich habe nicht die Gewohnheit, mich mit meinen Leuten zu unterhalten.‘
Seit diesem ersten Tage habe ich Herrn Molenbroek kaum mehr gesehen. Ich hörte ihn jeden Tag durch die Separattür, die vom Flur in sein Arbeitszimmer führt, kommen und gehen. Und pünktlich lag jeden Morgen ein Zettel auf meinem Pult, mit seinen Anweisungen für diesen Tag, die in lakonischer, fast verächtlicher Kürze gehalten waren.“
„Einen Augenblick,“ unterbrach Joe Jenkins die Sprechende. „Waren diese Zettel mit der Feder oder mit der Schreibmaschine geschrieben?“ — „Mit der Schreibmaschine.“
„Was wurde aus Ihrem Verlobten? Hörten Sie wieder von ihm?“
„Nein. Von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde habe ich gewartet — auf einen Brief, auf eine Karte, auf ein Lebenszeichen — nichts. Was ein solches Warten auf etwas, was nie eintrifft, für ein Menschenherz bedeutet, das wissen Sie vielleicht, Mr. Jenkins. Ich sann und grübelte Tag und Nacht über das Unglück nach, das ihn, das mich betroffen hatte. Und mit jedem Tage wurden mir alle diese Dinge rätselhafter und unheimlicher. Und immer unheimlicher und abstossender und verdächtiger wurde mir dieser Pieter Molenbroek, den ich täglich hörte und nie sah. Allmählich drängte sich mir die Überzeugung auf: dieser Mann weiss etwas, was er nicht sagt. Er war zuletzt mit Berthold Wiese zusammen; er weiss, wo sich Berthold Wiese aufhält ... und eines Nachts wurde es mir mit einem Schlage klar: Berthold Wiese ist ermordet worden ... Und Pieter Molenbroek ist sein Mörder! Mein Vater sah, wie ich mich härmte und grämte. Und eines Tages rief er mich in sein Zimmer.
‚Kind,‘ sagte er, ‚so geht das nicht weiter. Du musst heraus aus diesen Verhältnissen, aus dieser Luft — sonst verlierst du mir den Verstand. Du sollst reisen.‘ So seltsam es klingt, Mr. Jenkins — ich bin nicht gern fortgegangen. Mit einer fast abergläubischen Zärtlichkeit hing ich an dieser Stadt, an diesen Strassen, die mein ganzes Glück und mein ganzes Unglück gesehen hatten. Da las ich zufällig, dass Sie sich in Berlin aufhielten, Mr. Jenkins. Und als ich dies gelesen hatte, da war mein Entschluss gefasst: ich nahm das Anerbieten meines Vaters an und ging nach Berlin in der Hoffnung, ja in der Gewissheit, Ihnen zu begegnen und Sie um Ihren Rat zu fragen.“
Der Detektiv stützte gedankenvoll den Kopf in die Rechte und sah eine Weile stumm zu Boden. Endlich hob er langsam seinen Blick zu der jungen Dame empor. „Haben Sie mir,“ seine Stimme klang ernst und nachdenklich, „haben Sie mir alles gesagt, was geschehen ist? Alles, bis aufs letzte?“
„Alles, Mr. Jenkins.“
„Besitzen Sie ein Bild Ihres Verlobten?“
„Ja.“
„Ich möchte es haben.“
Sie zog aus einem Medaillon ein Miniaturbildnis, das einen hübschen jungen Herrn mit kühnen und scharfen Zügen darstellte.
„Ich brauche auch den Abschiedsbrief.“
Sie übergab ihm zögernd und wehmütig Bild und Brief, und er sagte lächelnd: „Sie erhalten beides in einigen Tagen wieder ... Und nun eine Frage: wann fahren Sie nach Frankfurt zurück?“
„Wann Sie es für erforderlich halten, Mr. Jenkins.“
„Wir haben heute Montag. Ich bitte Sie also, am Freitag abend in Frankfurt zu sein und mich in der Zeit zwischen sieben und acht Uhr abends im Hotel Georgia telephonisch anzurufen ... Und nun wollen wir uns trennen. Denn ich glaube, man wird schon auf unsere Unterhaltung aufmerksam.“
In der Bar des Georgiahotels, an der Westseite des Frankfurter Hauptbahnhofs, klangen die Gläser. Über diesem kleinen Raum lag der undefinierbare Hauch der grossen Welt. Ein kosmopolitisches Gewirr zahlloser Sprachen übte seinen Zauber; durch den bläulichen Zigarettendampf schimmerten weisse Schultern, girrte leises Frauenlachen. In einem der Klubsessel an der Peripherie des Raumes sass ein Herr in mittleren Jahren, dessen energisches glattrasiertes Gesicht mit dem breiten Kinn den Amerikaner verriet. Die kühlen grauen Augen beobachteten eine Weile interessiert das bunte Treiben.
Die Drehtür rauschte. Der alte Herr, der zögernd eintrat, sah sich suchend um. Er ging langsam an den Tischreihen entlang und nahm endlich in einem Klubsessel Platz, der neben dem des Amerikaners stand.
„Mr. Jenkins?“
„Was wünschen Sie von mir?“ fragte der Amerikaner kurz.
Der andere schwieg einen Augenblick. Dann hob er langsam den Kopf, und indem er dem Amerikaner in die Augen blickte, sagte er leise: „Mein Name ist Dr. Leutholdt.“
Über die Züge des Detektivs ging ein leichtes Lächeln. „Der Vater meiner jungen Klientin?“ fragte er nickend. „Ja ... Mr. Jenkins. Der Vater ... der gekommen ist, eine Bitte an Sie zu richten.“ — „Und die wäre?“ — „Ich weiss, Mr. Jenkins, warum Sie nach Frankfurt gekommen sind. Und ich möchte Sie nur um das eine bitten: lassen Sie diese Angelegenheit ruhen ... fahren Sie zurück nach Berlin ... gleich morgen früh ... glauben Sie mir, es ist zu unser aller Besten. Vor allem zum Besten meiner armen Tochter.“
Der Detektiv wandte seinen Sessel herum und sah dem alten Herrn voll ins Gesicht. „Und warum glauben Sie das, Herr Leutholdt?“ fragte er langsam.
Dr. Leutholdt sah einen Augenblick vor sich nieder: „Mr. Jenkins,“ begann er leise, „diese Geschichte hat meine Tochter schon an den Rand einer Nervenkrisis gebracht. Deshalb habe ich sie gerade nach Berlin geschickt, damit das veränderte Milieu, die veränderte Luft ihr wohltun und sie auf neue Gedanken bringen sollten. Wühlen Sie jetzt den ganzen traurigen Fall wieder auf, Detail für Detail, so ist, wie mir unser Hausarzt versichert, das Schlimmste zu befürchten. Zumal ich der Überzeugung bin: je mehr wir in diese Sache eindringen, desto erschütterndere und hässlichere Dinge werden zutage treten. Darum meine ich, wir breiten ein für allemal den Schleier des Vergessens über diese Dinge.“
Mr. Jenkins hatte stumm zugehört, ohne seine Meinung durch die geringste Geste kundzugeben. „Sie irren sich, Mr. Leutholdt,“ begann er lächelnd, „wenn Sie glauben, dass es nur die Angelegenheit Ihrer Fräulein Tochter ist, die mich nach Frankfurt geführt hat. Ich habe auch sonst Geschäfte hier. Ich werde mich also zunächst mit anderen Dingen befassen. Immerhin ... man kann nicht wissen ... auf alle Fälle werden Sie noch von mir hören.“ Und indem er sich erhob, wandte er sich an Dr. Leutholdt: „Sie entschuldigen, wenn ich mich zurückziehe — aber ich bin wirklich ein wenig müde. Gute Nacht.“ Und mit schnellen Schritten ging er durch die kleine Tür, die zur Hotelhalle führte. — — —
In den Industriepalästen der Mainzer Landstrasse hämmerte das geschäftige Leben des Werktags. Joe Jenkins, der das Auto an der Ecke der Speyerer Strasse verlassen hatte, trat auf das grosse Geschäftshaus zu und studierte die zahlreichen Zinktafeln, die in geätzten Buchstaben die Namen der Firmen angaben. Hier stand:
Berthold Wiese Nachfolger,
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