Meine Tätigkeit war nicht schwer. Aber sie gab mir das Gefühl, in der Welt zu etwas nütze zu sein. Ich darf es wohl sagen, ich habe meinen Posten mit Eifer und Liebe ausgefüllt und mich schnell eingearbeitet. Wenn Herr Berthold Wiese, so hiess der Inhaber, verreist war, so konnte ich ihn bald zu seiner vollen Zufriedenheit vertreten. Die liebenswürdigen Karten, die er mir von seinen Reisen schrieb, und die Blumen, die er mir mitbrachte wenn er zurückkehrte, bewiesen mir seine Anerkennung. Zwischen uns beiden entwickelte sich allmählich eine tiefgehende Sympathie; ich glaubte bald aus seinen Worten, seinen Blicken und seinen Gebärden herauszufühlen, dass er mich liebte, und auch mir gefiel der hübsche und gewandte Mann, der fast ganz Europa bereist hatte, von Tag zu Tag mehr. Und als er mich eines Tages fragte, ob ich seine Frau werden wolle, da sagte ich mit Freuden Ja.
Selig fuhr ich an diesem Mittag nach Hause. Aber — je mehr ich mich der Liebigstrasse näherte, desto grösser wurde meine Furcht, desto lauter meine Zweifel. Was würde mein Vater dazu sagen! Ich brachte das Geständnis, das mir auf den Lippen schwebte, nicht heraus. Erst am Abend, als ich mit meinem Vater nach dem Abendessen am Kamin sass, da fasste ich mir ein Herz und berichtete meinem Vater stockend und schüchtern, dass mir Herr Berthold Wiese einen Heiratsantrag gemacht habe, und dass ich mich als seine Verlobte betrachte.
Zu meinem freudigen Erstaunen hatte mein Vater nichts gegen diesen Bund einzuwenden. Er erklärte mir, dass ich in dieser rein persönlichen Angelegenheit einzig und allein meinem Herzen folgen solle, und dass ihm mein Verlobter als Schwiegersohn willkommen sei. Am nächsten Sonntag machte mein Bräutigam seinen Antrittsbesuch, und wir verlebten einen entzückenden Abend.
Nun folgte eine sonnige, glückliche Zeit. Mein Leben verlief zwischen zwei Menschen, die mich liebten, zwischen zwei edlen und geistig hochstehenden Männern. Bis eines Tages das Unheil kam. Plötzlich — über Nacht.
Mein Verlobter war auf einer seiner Geschäftsreisen. Eines Abends, kurz vor Geschäftsschluss — ich wollte eben die Lampen ausschalten —, bekam ich einen Besuch. Einen unheimlichen Besuch. Ein alter Mann mit eisgrauem Bart, die gebückte Gestalt auf einen Stock gestützt, trat mit schleppenden Schritten ein. Um den Hals hatte er einen dicken wollenen Schal geschlungen, und er sprach mit einer heiseren Stimme, wie ein Kranker. Der unstete Blick seiner Augen wich unaufhörlich dem meinen aus und war meist zu Boden gerichtet.
‚Ist Herr Wiese zu sprechen?‘ Seine Stimme klang drohend und unheilkündend.
Ich vermutete einen Kunden. ‚Nein, mein Herr,‘ entgegnete ich höflich, indem ich den Widerwillen gewaltsam bezwang, den mir dieser Mensch einflösste, ‚aber — ich bin seine Vertreterin, und Sie können von mir ebensogut bedient werden.‘
Er lachte höhnisch. ‚Das möchte ich sehr bezweifeln,‘ war seine hämische Entgegnung. ‚Wann kommt Herr Wiese zurück?‘
‚Morgen, glaube ich.‘
‚Gut, sagen Sie Herrn Wiese, Herr Pieter Molenbroek wäre hier gewesen.‘
Und damit schlürfte er hinaus. In der Tür drehte er sich nochmals um. ‚Morgen abend zwischen sechs und sieben komme ich wieder!‘
Am nächsten Morgen kam mein Verlobter von der Reise. Ich berichtete ihm von dem seltsamen Besuch, und es schien mir, als ob er sich verfärbte. ‚Herr Molenbroek?‘ wiederholte er mit schwerer Stimme, und ich hatte das Gefühl, als ob er zittere. Schon um fünf Uhr nachmittags verliess mein Bräutigam das Bureau, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit. „Ich habe noch einen Ausgang.“ Sonst pflegte er mir Rechenschaft über jeden Weg zu geben, den er machte ...
Punkt halb sieben, wie angekündigt, trat Pieter Molenbroek ein. ‚Ist Herr Wiese jetzt zu Hause?‘ fragte er mit seiner heiseren Stimme.
Ich wurde fast verlegen. ‚Nein,‘ sagte ich zögernd, ‚Herr Wiese musste einen wichtigen Geschäftsgang machen.‘
‚So ... so ...‘ meckerte der Alte. ‚So ungefähr hab’ ich’s mir gedacht. Aber — sagen Sie Herrn Wiese ...‘ und damit hob er drohend seinen Krückstock, ;das wird ihm nicht viel nützen. Er wird mir nicht entgehen ... hören Sie? Mir nicht! Wenn er morgen um diese Zeit nicht hier ist ... dann soll er Pieter Molenbroek kennen lernen ... Pieter Molenbroek aus Amsterdam!‘ Und damit warf er dröhnend die Tür hinter sich zu.
Am anderen Tage erzählte ich meinem Verlobten von dem Besuch. Er hörte mich schweigend an, gab kein Wort der Erklärung. Vergeblich wartete ich auf irgendeine Aussprache ... er war doch sonst offen gewesen gegen mich ... er schwieg. Und am Nachmittag kam er überhaupt nicht ins Bureau.
Um sieben Uhr erschien der Alte. In der Tür blieb er stehen. ‚Er ist natürlich wieder nicht da?‘ begann er kreischend. ‚Nein, Herr Molenbroek ... er ist nicht ins Geschäft gekommen.‘ Der Alte richtete sich zornbebend auf und schlug mit seinem Krückstock in sinnloser Wut auf das Zahlbrett an der Barriere. ‚Glaubt dieser Schuft, er wird mir entgehen? Sagen Sie Herrn Wiese, Pieter Molenbroek liesse mit sich nicht spassen!
Haben Sie mich verstanden? Sagen Sie Herrn Wiese, der Mann wäre hier gewesen, dessen Frau er ... sagen Sie ihm, ich würde ihn niederschlagen, wo ich ihn träfe ... ihn totschlagen ... hören Sie?‘ Damit tappte er fluchend hinaus. Ich sah, dass er unten in ein Automobil stieg.
Was hatte das zu bedeuten? Was meinte der Alte mit dieser Anspielung auf seine Frau? ... Und während ich traurig heimging, drängte sich mir allmählich das Gefühl auf, dass über meinem Verlobten etwas Unausgesprochenes schwebe ... etwas Dunkles ... vielleicht ein Verbrechen ...
Als ich am anderen Morgen ins Geschäft kam, war mein Verlobter nicht da.
Auch im Laufe des ganzen Vormittags erschien er nicht. Halbtot langte ich diesen Abend zu Hause an. Mein Vater kam mir besorgt entgegen und sah mich erwartungsvoll an. ‚Nichts‘, mehr konnte ich nicht sagen. Mein Vater eilte in meines Bräutigams Wohnung; er hatte in einem Pensionat der Beethovenstrasse zwei Zimmer inne. Nach zwei Stunden kehrte er heim, mit gesenktem Kopf. Seit gestern abend war Berthold Wiese nicht ins Pensionat zurückgekehrt.
Als ich am anderen Morgen um neun Uhr mit klopfendem Herzen und zitternden Knieen in das Geschäft kam, entdecke ich auf meiner Schreibmappe einen Brief, der seine Schriftzüge trägt. Ich reisse ihn auf und lese — hier ist der Brief, Mr. Jenkins — bitte lesen Sie ihn selbst.“
Der Detektiv nahm den Brief und entfaltete ihn. Er lautete:
„Geliebte!
Das Spiel ist aus. Pieter Molenbroek hat sich gerächt. Ja — ich will Dir alles gestehen.
Es mag jetzt vier Jahre her sein, da habe ich in jugendlicher Unbedachtsamkeit den Lockungen einer Circe nicht widerstanden. Ich hatte einen stillen Teilhaber in meinem Geschäft in Amsterdam — eben Herrn Pieter Molenbroek — und ich verkehrte in seinem Hause. Zwischen mir und der jungen schönen Frau des alternden Mannes entspann sich rasch ein unerlaubtes Verhältnis. Eines Tages — ich weiss nicht wie — kam der betrogene Gatte dahinter, und es gab eine Katastrophe. Er hat seine Frau hinausgejagt, und ich — ich bin geflohen.
Während ich diesen Brief schreibe, sitze ich mit Herrn Molenbroek im Wartesaal des Hauptbahnhofs.
Noch weiss ich nicht, was Molenbroek über mich beschlossen hat. Was mich noch besonders drückt, das ist dieses: nicht nur moralisch bin ich der Schuldner dieses Mannes; nein, er, mein früherer stiller Teilhaber, ist auch materiell mein Gläubiger. Darum habe ich in diesem Augenblick mit ihm einen Pakt geschlossen: ich habe mein gesamtes Hab und Gut und mein Geschäft in aller Form an ihn abgetreten.
An einem der nächsten Tage also wird Herr Molenbroek offiziell von dem Geschäft Besitz ergreifen. Ich reise noch diese Nacht ab. Und wenn Du diesen Brief erhältst, bin ich wohl hoffentlich schon im Auslande. Sobald es irgend möglich ist, hörst Du von mir.
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