Paul Rosenhayn - Die glühende Gasse

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Auch wenn Gustav Raymund tagsüber seine Arbeit im Büro tadellos erledigt – abends ist er immer unterwegs und kann von seinen kurzlebigen Liebschaften nicht lassen. Eines Tages, als er mal wieder mit seinen Freunden auf Tour ist, fällt ihm die junge Ninon auf der Straße auf. Galant stellt sich der selbstsichere Draufgänger zwischen sie und den zwielichtigen Mann, der sie zu verfolgen scheint. Bei den etwas heruntergekommenen Gestalten handelt es sich um ein Geschwisterpaar, wie der große Mann behauptet. Seine Schwester müsse mitkommen – sie sei einer der Hauptattraktionen des Zirkus Salandra. «Die glühende Gasse» heißt die Nummer und frech lädt Jean Coupot die Freunde ein, doch zu kommen. Als sich die drei die Vorstellung anschauen, ist es um Raymund längst geschehen. Fasziniert von Ninons Gang durchs Feuer lässt er sich auf eine neue Liebschaft ein. Eines Tages wartet nach einer Nacht mit Ninon die Polizei auf Raymund: Der Geldschrank in seiner Fabrik wurde aufgebrochen und ein Wächter ermordet. Das heißt: Aufgebrochen wurde nichts, sondern der Safe wurde mit Raymunds Schlüssel geöffnet. Raymund hat keine Ahnung, wann er seine Schlüssel verloren hat. Seine Unschuld kann er jedenfalls nicht beweisen. Aus Angst vor der Verhaftung schließt er sich dem Artistenpaar an, das auf dem Weg nach London ist. Mehr und mehr gerät der biedere Mann auf der Flucht in diffuse Abenteuer. Ausgerechnet als er auch noch zum Hochstapler wird und sich als Prinz Rohan ausgibt, begegnet ihm die Frau, die sein Leben retten wird.Ein Biedermann gerät in die Halbwelt – Schonungslos erzählt der Zirkusroman von der harten Existenz hinter den schillernden Kulissen des Artistenlebens, das schnell den schmalen Grad der Legalität überschreitet!-

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Paul Rosenhayn

Die glühende Gasse

Roman

Saga

Die glühende Gasse

© 1924 Paul Rosenhayn

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592731

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

I

Gustav Raymund öffnete den Pelzmantel, was die herzliche Heiterkeit der beiden anderen erregte.

Cornelsen stiess mit dem Ellenbogen den neben ihm gehenden Westermann in die Seite und deutete mit den Augen auf den Schnee, der fusshoch in frostiger Pracht den Rand des Trottoirs säumte.

Die drei passierten eben den Stadtbahnbogen, über den donnernd ein D-Zug nach dem Osten raste. Das Gewühl der Friedrichstrasse schlug gegen die schwärzlichen Träger wie zischendes Wasser gegen die dunkle und ruhige Mole; es brandete in unruhigen Spritzern zurück in den wirbelnden Dunst, über dem klar und erbarmungslos die bläuliche Kette der Bogenlampen stand. Rechts und links rotierten Drehtüren, lockten farbig glühende Lämpchen, und auf der Brücke raschelte die Halbseide der beginnenden Vorstadt.

Westermann wies hinüber nach dem Kabarett. Raymund schüttelte den Kopf.

Drei junge Damen, die Röcke im Geschmack dieser Gegend schulmädchenartig gerafft, fassten sich unter und schwänzelten den dreien mit beziehungsvoller Ahnungslosigkeit entgegen.

Prompt öffnete sich die Kette der Herren und liess die drei passieren — eine respektvolle Geste, die den Rücksichtsvollen ein paar enttäuschte Zurufe eintrug.

Die Strasse verbreiterte sich, aber Duft und Farbe hatten sich verändert; nun war sie eine völlig andere geworden. Was hier im harten Lichte vorüberstrich, kam aus den Mietskasernen des Nordens, in Kleidung, Sprache und Art kleinbürgerlicher, robuster, nuancenloser.

Westermann blieb an einem Auto stehen.

„Altes Ballhaus!“

Die beiden andern protestierten: „Wir wollen zu Fuss gehen. Das kleine Stück!“ Mit einer verzweifelten Gebärde zuckte Westermann die Achseln und versenkte die Hände in den Raglan.

Sie bogen schräg über die Strasse. Die Gegend der Kellerwirtschaften tat sich auf; kratzend gingen grelle Geigen. Dann wurde es dunkler, eine Strasse von unabsehbarer Länge öffnete sich, das elektrische Licht wich dem Gas, und rarer wurden Paletot und Stehkragen.

Aus einem der Toreingänge, die wie schwere Schlagschatten gegen das harte Glühlicht standen, kam hastiges Laufen. Schimpfworte gellten auf, hallend flogen Füsse über den Zement. Im Lichtkegel der Lampe erschien ein Mädchen. Sie sah sich einen Moment verzweifelt um, dann rannte sie die Strasse hinunter, den dreien entgegen. Ihr folgte, fast auf den Fersen, ein breitschultriger Bursche. Er war schneller als sie, und seine Verwünschungen grölten drohend vor ihm her. Sie, mit einem letzten Zusammennehmen aller Kräfte, beschleunigte ihren Lauf, und atemlos stand sie vor den dreien, die Hand auf das Herz gepresst.

Da hatte der Verfolger sie schon eingeholt. Aber er mochte, obwohl er die drei nicht zu sehen schien, das Unvorteilhafte der Situation schlau erfasst haben; denn er begnügte sich damit, die Keuchende am Arm zu packen.

„Was ist denn?“ fragte Raymund, der zum erstenmal den Mund auftat. „Was gibt es, was wollen Sie von diesem Mädchen?“

„Das ist meine Sache“, sagte der Bursche knurrend, dennoch mit einem Unterton des Respekts. „Sie ist meine Schwester und will mir nicht gehorchen.“ Damit zog er die Widerstrebende an sich.

Raymund drängte sich zwischen die beiden. „Was ist das, Fräulein? Ist dies Ihr Bruder?“

Das Mädchen nickte.

„Da hören Sie es selbst“ — die Stimme des jungen Menschen wurde lauter — „und nun stören Sie uns gefälligst nicht, wir müssen in den Zirkus.“

Plötzlich begann das Mädchen zu schluchzen. „Ich soll mein Leben aufs Spiel setzen. Bloss damit er Geld verdient!“

„Also hören Sie mal“, Westermann, Mitglied des Athletenklubs „Knockout“, hatte das Gefühl, dass er hier etwas tun müsse. Er befreite den Arm der Geängstigten aus der Umklammerung. „Ich werde es nicht zulassen, dass Sie Ihre Schwester hier so einfach mit Gewalt zu etwas zwingen, was gegen ihren Willen geht. Und überhaupt, wenn Lebensgefahr dabei ist ...“

„Mein Herr,“ sagte der Gescholtene, indem er sich zu edler Pose aufrichtete, „was meine Schwester sagt, ist dummes Zeug.“

„Er lügt“, schluchzte sie.

„... ist dummes Zeug. Überzeugen Sie sich selbst davon, meine Herren. Nämlich die Sache ist die, wir treten zusammen auf im Zirkus ‚Salandra‘.“

„Salandra?“ wiederholte Raymund kopfschüttelnd. „Davon habe ich noch nie etwas gehört. Wo ist denn das?“

„Der Zirkus Salandra ist der schönste Zirkus Deutschlands, und er befindet sich auf dem Rummelplatz in der Ackerstrasse. Ich denke, das genügt.“

„Durchaus“, sagte Raymund.

„In zehn Minuten fängt die neue Vorstellung an. Und zu dieser sind die Herren ergebenst von mir und meiner Schwester eingeladen. Sie müssen nämlich wissen, meine Herren, ich bin die Hauptattraktion des Zirkus ‚Salandra‘, und wenn ich jemand einlade, so hat der Direktor gar nichts dagegen zu haben. Sollte er aber trotz alledem vielleicht — Sie verstehen— er sitzt selbst an der Kasse, es ist so ein kleiner Dicker, dann hauchen Sie ihn, bitte, gehörig an. Oder geben Sie einfach dem Billetteur einen Schubs und gehen durch. Ach so, das geht vielleicht nicht, ich verstehe, ich habe mit Schentelmännern zu tun; also wenn Sie ihm keinen Schubs geben wollen, gehen Sie doch bitte um das Zelt herum; am Hintereingang des Zirkus, dort, wo das kleine Fenster eingelassen ist, dort brauchen Sie bloss anzuklopfen, dann lasse ich Sie durch den Garderobenkorridor.“

„Schon gut,“ sagte Cornelsen beunruhigt, „wir werden schon hineinkommen in den Zirkus. Aber was ist denn das mit Ihrer Schwester — Sie sehen doch, sie zittert am ganzen Körper.“

„Ich darf es Ihnen eigentlich nicht verraten, mein Herr, denn ich nehme Ihnen die Spannung weg. Aber so viel auf alle Fälle: unsere Nummer heisst ‚Die glühende Gasse‘, und sie ist fabelhaft interessant. Und von wegen Gefahr, das sieht bloss so aus, und meine Schwester ist nur wütend, weil ich gestern abend in gerechtem Zorn den Vorschuss versoffen habe.“

„Soso!“

„Keinen Pfennig haben wir im Hause,“ flüsterte die junge Artistin, „alles bringt er durch; und das ist noch nicht das schlimmste. Ich darf nicht nach Hause gehen, wenn die Vorstellung zu Ende ist, immer hat er irgendwelche Bekanntschaften parat ...“

„Also die Vorstellung beginnt, und ich muss eine Million Konventionalstrafe bezahlen, wenn wir nicht ...“

Überwältig von der geschäftlichen Logik dieser Worte liessen die drei es geschehen, dass der junge Mann seine Schwester mit sich fortzog. Er wandte sich noch einmal zurück und sagte, indem er mit der charakteristischen Eleganz des Akrobaten eine fabelhafte Verbeugung hinlegte:

„Ich heisse Jean Coupot — und dies ist meine Schwester Ninon Coupot. Und im übrigen können Sie ganz beruhigt sein, Ninon wird so wenig etwas geschehen wie Ihnen in Ihrer Loge. Also vergessen Sie nicht: er ist ein kleiner Dicker und sitzt an der Kasse, oder Sie schubsen den Billetteur, oder Sie klopfen hinten an mein kleines Fenster. Auf baldiges Wiedersehen! Danke sehr!“

Er blickte verstohlen in die hohle Hand und sagte mit einem tiefen Ton der Hochachtung: „Nochmals ergebensten Dank!“

Damit segelten die beiden um die Ecke.

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