Dadurch verstärkte sich naturgemäß der Verdacht gegen ihn. Aber es war zunächst weiter nichts aus ihm herauszubekommen.
Lebrun nahm sich erneut seinen Begleiter vor. Der wollte ihn erst vor drei Tagen kennengelernt haben. Der Befragte war noch ein jüngerer Mensch, der, was die Art seiner Aussagen betraf, einen nicht ganz unglaubwürdigen Eindruck machte.
„Was hat Ihnen denn Ihr Begleiter erzählt?“ fragte Lebrun, „ich meine über seine Herkunft und das Ziel der Wanderschaft?“
Der junge Mann blickte den Fragenden ängstlich an, gab aber dann seine Antworten mit einer nicht zu verkennenden Sicherheit.
„Von seiner Vergangenheit hat er nicht viel gesprochen,“ erwiderte er, „im übrigen wollte er nach Paris. Ich hatte dasselbe Ziel. Deshalb hatten wir uns ja auch zusammengetan. Zu zweit wandert sich‘s leichter.“
„Sie behaupten also, rein zufällig in der Nähe der Unglücksstelle gewesen zu sein?“
„Ja.“
„Wann kamen Sie in den Schober, in dem Sie genächtigt haben?“
„Es mochte so gegen acht Uhr gewesen sein. Wir waren sehr müde, aßen nur noch die Brote, die wir bei uns hatten, und legten uns schlafen. Bis wir durch das Krachen aufgeschreckt wurden.“
„Ist Ihnen vielleicht aufgefallen, daß Ihr Genosse während des Abends den Schober noch einmal verlassen hat?“
„Nein. Ich schlief fest, glaube aber auch nicht, daß er noch einmal fortging.“
„Also, erzählen Sie weiter — Sie wachten von einem Krachen auf. Was geschah dann?“
„Jaques, mein Begleiter, zerrte mich sofort hoch und sagte, wir müßten auf der Stelle verduften, es schiene etwas passiert zu sein, und es wäre nicht nötig, daß wir uns einem Verdacht aussetzten.“
„Wenn er von einem Verdacht sprach, so mußte er also schon wissen, daß ein Verbrechen geschehen war! Ist Ihnen das denn nicht aufgefallen?“ „Ich habe nicht weiter nachgedacht und bin mit ihm einfach davongelaufen. Kurze Zeit danach wurden wir festgenommen.“
Ein Beamter trat ein. „Verzeihen Sie, Herr Kommissar, daß ich störe. Eben ist eine Meldung gekommen, daß man in einer Herberge in Montélimar die Papiere eines gewissen Pierre Lorrain gefunden habe.“
„Ah — das ist dieser Mann hier. Demnach hat er uns also doch nicht beschwindelt!“
Über die Züge Lorrains ging ein befriedigtes Grinsen. „Nein, Herr Kommissar“, sagte er lebhaft, „Sie können mir wirklich glauben. Ich habe Ihnen nichts vorgemacht.“
Lebrun wandte sich dem Beamten zu. „Nach dieser Feststellung glaube ich, daß wir Herrn Lorrain wieder entlassen können. Allerdings nicht ohne die Versicherung seinerseits, daß er sich bis auf weiteres in den von uns zu bezeichnenden Städten jeweilig bei der Polizei meldet. Auch hat er uns den Weg, den er einschlagen will, genau anzugeben. — Erklären Sie sich damit einverstanden, Lorrain?“
„Jawohl, Herr Kommissar!“ Der Mann strahlte.
„Veranlassen Sie“, wandte sich Lebrun wiederum seinem Untergebenen zu, „daß die Papiere des Mannes so rasch wie möglich hierher gesandt werden. So lange freilich muß er noch bleiben.“
Der Beamte ging mit Lorrain hinaus. Lebrun ließ den leitenden Kommissar zu sich kommen. Er erklärte ihm kurz den Fall und bemerkte:
„Die Bedenken, die ich in Ihren Zügen lese, Kollege, sind unbegründet. Lorrain wird natürlich weiter beobachtet. Einer Ihrer Beamten wird sich gleichfalls als Handwerksbursche verkleiden und wird sich dann unterwegs mit dem Burschen anzubiedern versuchen, verstehen Sie, wie ich das meine?“
„Jawohl. Ein guter Gedanke!“
„Sollte der Mann tatsächlich — was ich übrigens kaum noch glaube — mit dem Verbrechen irgendwie in Verbindung stehen, so wird man ihn erstens auf diese Weise noch einmal ganz harmlos aushorchen können, und zweitens würde man feststeilen, ob er mit irgendwelchen Hintermännern in Verbindung tritt.“
Das Telephon läutete.
„Hier Lebrun!“
„Hier Kommissar André, Paris. Ich komme auf Ihre gestrige Frage zurück, Lebrun. Sie wollten doch wissen, ob irgendeine Persönlichkeit von Bedeutung den Unglückszug benutzt haben könnte. Befindet sich auf der Liste der Passagiere, die Sie dort haben auf stellen lassen, ein gewisser Vicomte de Girard?“
„Jawohl.“
„Das war unser Außenminister. Er reiste inkognito.“
„Ah! Vielen Dank, Kollege! Demnach wäre die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß ihm der Anschlag gegolten hat.“
„Richtig. Ich habe hier bereits alles eingeleitet, um auch in dieser Richtung Klarheit zu schaffen. Nachdem erst vor einigen Wochen ein Attentat gerade auf diesen Minister versucht worden ist, erscheint mir der Fall um so verdächtiger.“
Lebrun blätterte in den Akten, als ihm ein Herr aus Etoile gemeldet wurde. Es war ein Inspektor der dortigen Kriminalpolizei, der seinen Besuch bereits angesagt hatte. Er brachte das Ergebnis seiner Erkundigungen über den Schriftsetzer Latour mit.
„Bitte, nehmen Sie Platz, Inspektor!“ lud Lebrun den Besucher ein, „also was können Sie mir über Latour berichten?“
Der Inspektor entwickelte ein anschauliches Bild des Mannes. Latour war als ein äußerst sensibler, neurotisch veranlagter Mensch bekannt. Bei seiner allgemeinen Verworrenheit konnte man ihn beim Ami de peuple nicht länger gebrauchen, wo er zwei Jahre lang tätig war. Vor einigen Monaten wurde er dort entlassen. Er gab sich nun allen möglichen phantastischen Plänen hin. Vor allen Dingen glaubte er plötzlich eine ausgesprochen journalistische Begabung in sich zu entdecken. Er sandte fortgesetzt Artikel an die verschiedensten Blätter ein, freilich ohne damit einen besonderen Erfolg zu haben. Sein Geltungsbedürfnis war jedenfalls außerordentlich ausgeprägt.
Lebrun zog ein wenig die Schultern hoch. Er hatte aufmerksam zugehört. Kein einziges Mal unterbrach er den anderen, bis der zu Ende gekommen war.
„Was halten Sie von der Glaubwürdigkeit dieses Mannes?“ fragte er schließlich, nachdem er noch eine Weile sinnend geschwiegen hatte. Der Inspektor zuckte die Achseln.
„Der Mann scheint mir ein regelrechter Phantast zu sein. Ich persönlich würde ihm nicht zuviel Glauben schenken.“
Lebrun berichtete die Geschichte, die ihm der Verdächtigte vortrug. „Na“, fragte er, „und was halten Sie davon?“
„Nichts, Herr Kommissar!“ war die einfache Antwort.
„So? Und warum nicht?“
„Weil der Mann zu der fraglichen Zeit, als er das Gespräch belauscht haben wollte, gar nicht in Etoile, sondern in Livron war.“
„So? Das haben Sie festgestellt?“
„Jawohl. Meiner Meinung nach dürfte er die ganze Geschichte erfunden haben, nur um sich interessant zu machen.“
Lebrun kritzelte mit dem Bleistift etwas auf ein Stück Papier. „Merkwürdig“, sagte er, „eine ähnliche Vermutung wurde mir gestern schon von unserem jungen deutschen Kollegen Seidler eingeflößt. Sie ist auch nicht von der Hand zu weisen. Aber damit würde auch die Belastung Moulins im wesentlichen wieder in sich zusammenfallen.“
„Ja, ja — eine vertrackte Geschichte, Herr Kommissar!“
„Soll sie der Teufel holen! — Trotzdem — wir dürfen nicht locker lassen.“
„Darf ich fragen, Herr Lebrun, ob man sich wenigstens über das Motiv des Anschlages klar ist?“
Der Kommissar war aufgesprungen und lief nervös hin und her.
„Nein. Eben auch nicht. Im Gegenteil. Durch eine Nachricht, die ich vorhin aus Paris erhielt, erscheint mir alles noch komplizierter. Unser Außenminister — Sie wissen, auf den man kürzlich erst einen Anschlag machte! — ist in dem fraglichen Zuge gewesen. Da man außerdem einen erheblichen Goldtransport mitführte, zu dessen Sicherung ein besonderer Postbeamter kommandiert worden war, können sowohl politische wie auch räuberische Motive maßgebend gewesen sein.“ Der Inspektor wiegte bedächtig seinen massiven Kopf hin und her. Er äußerte sich nicht weiter darüber, sondern sagte nur schmeichlerisch:
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