„Ich danke Ihnen zunächst, Herr Léon!“ sagte er dann verbindlich und verabschiedete sich.
Die Schlosserei lag in der Rue Martin. Seidler mußte einen Hof überschreiten. Aus einem langen, verwahrlosten Schuppen klang ihm lebhaftes Hämmern und das Surren einer Maschine entgegen.
Er trat ein. Der Schlosser, ein breiter, stattlicher Mann in blauer Schürze, kam ihm entgegen.
„Sie wünschen, mein Herr?“
„Ich komme im Auftrage der Firma Olivier“, erwiderte Seidler, den Mann begrüßend, „Sie können sich wohl noch entsinnen, daß Sie vor etwa zwei Jahren die Schlösser erneuern müßten.“
Der Alte wischte sich an der Schürze die Hände ab. „Ja, ja — ich besinne mich wieder“, entgegnete er, „da war doch ein Bund abhanden gekommen!“
Er sprach den Dialekt des Provinzialen und war für Seidler schwer zu verstehen. Der Kriminalassistent faßte ihn scharf ins Auge und fragte weiter:
„Es wurden damals vier neue Schlüssel bestellt, nicht wahr?“
Der Mann besann sich. „Vier? Warten Sie mal — hm — ja, kann stimmen. Richtig! Einer wurde ja dann noch nachbestellt. Erst sind es nur drei gewesen.“
In Seidlers Augen blitzte ein freudiges Leuchten auf. „Darf ich wissen“, fragte er weiter, „wer die Nachbestellung bei Ihnen gemacht hat?“
Der Mann kratzte sich hinter dem Ohr, als ob er dort die Erinnerung herholen müßte. Dann erwiderte er:
„Soviel ich mich noch besinnen kann, war es der Buchhalter, den Sie damals hatten.“
„Wohl ein Herr Kießling?“
„So mag er geheißen haben. Jedenfalls war es ein deutscher Name.“
„Sie haben die Nachbestellung damals ohne weiteres angenommen und ausgeführt?“
Der Schlosser blickte Seidler ein wenig befremdet an. „Ja — warum sollte ich nicht? Er brachte mir einen Brief von der Firma mit.“
„Haben Sie diesen Brief zufällig noch?“
„Ja, lieber Herr — da müßte ich erst alles noch einmal durchsehen. Das weiß ich wahrhaftig nicht. Es ist auch wirklich zu lange her.“
„Der vierte Schlüssel wurde dann von dem Buchhalter abgeholt?“
„Ja. Darauf kann ich mich noch besinnen.“
„Es wäre mir doch sehr lieb, wenn Sie den Brief einmal suchen würden. Ich kann Ihnen ja dabei behilflich sein.“
„Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll! Was nützt Ihnen heute der alte Brief? Sie stellen ja ganz komische Fragen!“
„Ich bin beauftragt, darüber Nachforschungen anzustellen. Es war auch sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mir so freundliche Auskunft gaben. Aber nun kommt es mir noch auf den Brief an.“
„Na schön“, erwiderte der Meister gutmütig, „ich werde mal nachschauen. Nur jetzt habe ich keine Zeit dazu.“
„Das ist verständlich. Aber vielleicht vertrauen Sie mir einmal Ihre Korrespondenz an. Dann kann ich ja nachsehen.“
In dem Mann schien plötzlich irgendein Mißtrauen wach zu werden. „Nein“, sagte er mit veränderter Stimme, „das möchte ich lieber nicht tun. Doch meinetwegen können Sie morgen wiederkommen. Dann suche ich Ihnen den Brief heraus — sofern er überhaupt noch vorhanden ist. Ich pflege allerdings alles Schriftliche aufzuheben.“
„Ganz wie Sie wünschen, Meister. Ich werde mir dann erlauben, morgen wieder hier vorzusprechen.“
Nachdenklich verließ Seidler den Hof. Mit dem bisherigen Resultat war er durchaus zufrieden. Irgend etwas stimmte hier nicht. Das war sicher. Schade, daß er den Brief noch nicht gleich erhielt. Allein schon wegen der Zeitbestimmung erschien er wichtig.
Im übrigen hatte er Glück gehabt, daß der Schlossermeister ihm ohne weiteres so bereitwillig Auskunft gab. Das war wohl seiner Naivität zuzuschreiben. Wenn man nur immer so leichtes Arbeiten hätte!
Er rief noch einmal Herrn Léon an.
„Nur eine Frage, Herr Léon — — Sie haben damals bestimmt nur drei neue Schlüssel anfertigen lassen?“
„Jawohl, nur drei. Wieso fragen Sie?“
„Das werde ich Ihnen morgen erzählen. Dann werden Sie vielleicht noch etwas viel Interessanteres zu hören bekommen.“
Die Witwe Annette Defleur, ein kleines, bewegliches Persönchen, besaß eine für ihre Verhältnisse sehr große Wohnung in der Avenue Romain. Von den sechs Zimmern hatte sie allerdings stets vier vermietet, wodurch sie zu einem recht netten Zuschuß zu ihrer Pension kam. Für ihre Pensionäre sorgte sie mütterlich, nahm Rücksicht auf alle Wünsche und war dadurch sehr beliebt. Ein Leben ohne Sorgen für andere wäre ihr zu einsam und zwecklos erschienen.
Die Mieter wechselten nicht sehr oft. Im Gegenteil, manche blieben, da sie sich wohl fühlten, jahrelang. Nur wenn es einmal einem, trotz der guten Behandlung seitens der Witwe, im Leben zu einsam wurde, so daß er heiraten und sich ein eigenes Heim gründen wollte, verlor sie ihn. Andere Gründe des Fortziehens kamen nur selten vor.
Es klingelte. Behende huschte sie an die Tür.
„Guten Tag, Madame, — entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich wollte mich nur einmal nach einem Ihrer früheren Mieter erkundigen.“
„Bitte, treten Sie näher, mein Herr! Mit wem habe ich denn die Ehre?“
„Mein Name ist Seidler. Es handelt sich um den Schweizer namens Kießling, der einmal bei Ihnen gewohnt haben soll.“
Die Dame fährt überrascht zusammen. Ein verhaltener Ruf des Staunens kommt ihr über die eng zusammengekniffenen Lippen.
„Ja — aber das ist wirklich sonderbar!“ meint sie, „vorgestern ist Herr Kießling noch bei mir gewesen, nachdem ich ihn fast zwei Jahre lang nicht mehr sah!“
Auch Seidler ist überrascht. „Was?“ fragt er, „zwei Jahre lang ist er nicht hier gewesen? Wo steckte er denn in der Zeit?“
„Er war doch damals nach Belgisch-Kongo ausgewandert. Nun ist er wieder mal nach Europa gekommen, weil, wie er sagte, das Heimweh zu sehr an ihm gefressen hat.“
„Das ist mir sehr interessant. War er lange bei Ihnen?“
„Nein. Er hat nur eine Tasse Kaffee bei mir getrunken. Sie sind wohl ein Freund von ihm?“
Seidler besann sich rasch. „Ja“, erwiderte er, einer Eingebung folgend, „wir sind früher einmal in Hamburg zusammen gewesen. Später verlor ich ihn aus den Augen. Leider. Er war ein netter Mensch!“
„O ja!“ erwiderte Frau Defleur, „wir sind immer gut miteinander zurechtgekommen.“
„Hier ist er doch bei der Firma Olivier tätig gewesen, nicht wahr?“
„Ganz richtig. Aber die Stellung hat ihm dort auf die Dauer wohl doch nicht so recht behagt. Auf Grund von Beziehungen ist er daraufhin in die Kolonie gegangen. Es hat mir damals sehr leid getan, daß ich ihn hergeben mußte.“
So sprach sie von ihren Mietern — etwa wie eine Mutter, die eins ihrer Kinder verloren hatte.
Seidler kniff ein wenig die Augen ein, eine Angewohnheit, die man bei ihm stets beobachten konnte, wenn er nachdenklich wurde oder rasch und scharf denken mußte.
„Schade“, begann er nach einer Pause, „ich hätte ihn gerne wiedergesehen. Wissen Sie nicht, wo er wohnt?“
„Nein. Er sagte, daß er nur auf der Durchreise hier sei, und daß er wahrscheinlich bald wieder nach Afrika zurückfahren werde. Er leitet dort eine Farm.“
„Hatte er Ihnen von dort aus einmal geschrieben?“
„Nein. Aber daß er mich nicht vergessen hat, das bewies er ja durch seinen Besuch bei mir. Allerdings muß ich es auch bedauern, daß ich Ihnen keine Adresse angeben kann.“
Seidler bedankte sich für die Auskunft und verabschiedete sich.
Bei Lebrun waren inzwischen verschiedene telegraphische Nachrichten eingegangen. Was die beiden Handwerksburschen betraf, so wurden die Angaben des einen bestätigt. Die des anderen stimmten nicht. Er wurde erneut ins Verhör genommen. Nach einer stundenlangen, zermürbenden Vernehmung bequemte er sich endlich einzugestehen, daß er falsche Angaben machte, und berichtigte sie. Nach einigen telephonischen Rückfragen konnte festgestellt werden, daß es sich bei ihm um einen gesuchten Verbrecher handelte, der an einem Einbruchsdiebstahl in Avignon beteiligt war.
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