Latour wurde in eine Einzelzelle zurückgebracht. Als gegen Abend Seidler mit Lebrun zu einer Besprechung zusammenkam, überreichte der Franzose dem Deutschen ein Telegramm, der es erstaunt in Empfang nahm und öffnete. Absender Verkehrsministerium?
Seidler liest.
„In Anerkennung Ihres außerordentlich geistesgegenwärtigen und tatkräftigen Handelns, durch das eine unabsehbare Katastrophe verhindert wurde, spreche ich Ihnen meine besten Glückwünsche aus. Gleichzeitig stelle ich Ihnen eine Prämie in Form einer vierwöchigen Reise durch Frankreich, bei freier Fahrt und freier Verpflegung, zur Verfügung. Der Verkehrsminister.“
Seidler reichte das Telegramm wortlos dem Kommissar hin. Der klopfte ihm lächelnd die Schulter.
Sein schmunzelndes Brummen ist deutlich vernehmbar.
„Ich gratuliere Ihnen, mein junger Freund! Aber Sie werden doch nun nicht gleich auf die Reise gehen?“
„Ausgeschlossen, Herr Kommissar!“
„Hm — im Vertrauen gesagt: da ist noch eine Weisung an mich gekommen, und zwar von meiner obersten Vorgesetzten Behörde, daß ich Sie in der Sache des Attentats mit den weitgehehdsten Befugnissen ausstatten soll. Man erinnert sich noch des Falles von Amsterdam, wo Sie damals — es ist ja nun wohl schon über zwei Jahre her — als junger Anfänger den internationalen Verbrecher Lorip zur Strecke brachten! Es war übrigens sehr vernünftig von Ihnen, in den Staatsdienst zu treten. Sie scheinen mir wirklich besonders befähigt zu sein!“
„Nur kein Lob, bitte, Herr Kommissar! Das macht mich immer nervös!“
Lebrun lachte und reichte dem Kollegen die Hand hin. „Na! — und wie sieht es bei der Firma Olivier aus?“
Seidler stocherte mit seinen spitzen Fingern etwas unruhig zwischen einigen auf dem Tisch liegenden Papieren herum.
„Ich habe heute leider den Prokuristen nicht mehr erwischen können, der gerade geschäftlich verreist ist. Morgen früh soll er da sein. Immerhin konnte ich eine ältere Angestellte vernehmen. Sie sagte mir, daß einmal Schlüssel abhanden gekommen wären. Freilich sei das schon lange her — sie könne sich nicht mehr genau besinnen. Aber der Prokurist wüßte sicher Bescheid.“
„Sie halten etwas von dieser Schlüsselgeschichte?“
„Ich glaube, daß man auf alles hier achten muß. Bei den jetzigen Inhabern der Schlüssel scheidet jedenfalls wohl jede mißbräuchliche Benutzung aus. Das habe ich schon ermitteln können. Es gab viele Kleinarbeit. Aber das schadet nichts. Gerade so etwas liegt mir. So habe ich heute zum Beispiel den Leumund des Wachtbeamten genau geprüft. Gegen den Mann ist nichts einzuwenden. Für mich steht jedoch fest, daß jemand nachts in den Räumen gewesen ist. Und diesen Jemand werde ich fassen.“
„Na — dann viel Glück dazu. — Aber nun hören Sie auch, was ich inzwischen herausbekam!“
Gespannt folgte Seidler den Ausführungen des Kommissars.
„Sie halten also Moulin für den Attentäter?“ fragte er schließlich.
Lebrun ließ einen Bleistift durch seine Finger gleiten. „Fest will ich es nicht behaupten. Es hängt von der Glaubwürdigkeit dieses Latour ab. Er selbst — ich meine Moulin! — streitet alles entschieden ab. Irgendein Haken ist noch bei der Sache.“
„Ja ja — ich glaube, auch Ihnen wird sich noch mancherlei Kleinarbeit dabei entgegenstellen. Vielleicht sind morgen schon Nachrichten über die Leute da. Sie haben gewiß gleich überall angefragt?“
„Selbstverständlich. Ich meine auch, daß gerade diese Meldungen wichtig sind. Ein Kollege aus Etoile will morgen zu mir kommen. Dann werden wir hoffentlich Näheres über Latour erfahren.“
„Ich weiß nicht — aber ich halte nicht viel von dem Kerl!“
„In welcher Beziehung?“
„Nach allem, was Sie erzählten, glaube ich, daß er simuliert.“
„Meinen Sie? Aber was sollte er denn für einen Grund dazu haben?“
„Es gibt viele Gründe. Jedenfalls möchte ich Ihnen empfehlen — sofern ich mir eine Meinung erlauben darf — diesem Herrn nicht allzuviel Glauben zu schenkend.“
Lebrun nagte an seiner Unterlippe. „Hm — na ja. Vielleicht haben Sie gar nicht so unrecht.“ „Haben Sie auch die Handwerksburschen noch einmal vorgenommen?“
„Nein, dazu bin ich leider noch nicht gekommen. Im übrigen warte ich auch bei diesen beiden noch die Bestätigung ihrer Angaben ab.“
Der Prokurist der Firma Olivier empfing Herrn Seidler mit echt französischer Liebenswürdigkeit, „Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Herr Kommissar!“ sagte er und hielt dem Besucher eine Kiste Zigarren hin.
„Ich muß Sie schon gleich berichtigen“, erwiderte Seidler höflich, „ich bin noch nicht Kommissar.“
„Aber das tut ja gar nichts zur Sache. Wenn Sie es jetzt noch nicht sind, werden Sie es vielleicht morgen sein!“
„Oh — so schnell geht das nicht.“
„Sie sind Deutscher!“
„Ja.“
„Und arbeiten hier bei uns?“
„Das ist ein Zufall. — Aber, nun sagen Sie bitte — — mir wurde gestern bereits gesagt, daß hier einmal Schlüssel verlorengegangen sind.“ „Schlüssel? Ja, richtig. Aber das ist verdammt lange her. Ich verstehe nicht, daß Sie diesem Umstande noch Bedeutung beimessen.“
„Oh — monsieur Leon, Bedeutung! Bedeutung gewinnt bei uns unter Umständen schon ein Stecknadelknöpf, ja, ein Haar, so daß manchmal das Ergebnis einer Nachforschung im wahrsten Sinne des Wortes an einem Haare hängt. — Also: wann etwa sind die Schlüssel verlorengegangen — und wie sind sie abhanden gekommen?“
„Das — ja, das wird jetzt schon so an die zwei Jahre her sein. Ich hatte die Schlüssel unserem damaligen Buchhalter gegeben, weil ich am nächsten Morgen erst später kam. Als ich dann eintraf, stand das ganze Personal vor der Tür, der Buchhalter hatte das Bund verloren. Man hatte inzwischen schon nach dem Chef geschickt, um die anderen Schlüssel herbeizuholen.“
„Hm — können Sie sich noch besinnen, was damals der Buchhalter angab — ich meine: wo und wieso er die Schlüssel verloren hatte?“
„Er sagte, bei einer Bierreise seien sie ihm abhanden gekommen. Jedenfalls sind die Schlüssel verschwunden geblieben.“
„Der Buchhalter ist nicht mehr hier bei Ihnen?“
„Nein. Er ist kurze Zeit später entlassen worden. Wir kamen Unregelmäßigkeiten auf die Spur.“
„Unterschlagungen?“
„Wenn Sie es genau wissen wollen: ja! Aber es war keine bedeutende Summe. Um alles Aufsehen zu vermeiden, sahen wir von einer Anzeige ab. Der Mann stellte uns dann auch sein neues Motorrad, das er sich gerade angeschafft hatte, als Entschädigung zur Verfügung, so daß der Schaden für uns so gut wie behöben war.“
„Wie hieß der Mann?“
Herr Léon holte die Personalakten herbei. Er blätterte einen Augenblick. Dann hatte er das Gewünschte gefunden. „Hier“, sagte er, „ist alles genau aufgezeichnet. Er nannte sich Werner Kießling.“
„Ein Deutscher?“
„Nein, ein Schweizer, der sich hier sprachlich weiter ausbilden wollte. Er wies ein Zeugnis von einer Hamburger Firma vor.“
„Wissen Sie zufällig, ob der Mann sich noch hier in Valence befindet?“
„Nein. Keine Ahnung.“
Seidler schrieb sich die einzelnen Daten sowie die damalige Adresse des Mannes auf. Dann fuhr er fort:
„Ist das Schloß damals verändert worden?“
„Ja, natürlich. Herr Olivier ließ es für alle Fälle gleich ändern.“
Seidler rückte etwas nervös hin und her. Dadurch erschien ihm die ganze Schlüsselgeschichte wieder bedeutungslos.
„Seitdem ist kein Schlüssel mehr verlorengegangen?“
„Nein.“
„Können Sie mir vielleicht noch den Schlosser benennen, der damals die Änderung vornahm?“
Dem Prokuristen kam diese Frage wieder recht sonderbar vor. Aber ja — er konnte den Schlosser nennen. Auch dessen Adresse wurde von Seidler gewissenhaft aufgeschrieben.
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