„Guten Abend, Vater!“
„Nu, kommste endlich?“
„Ja, ich war ein bisschen beim Schaffer, weil du noch nicht da warst.“
„Weil ich – weil ich nicht da war? Werd’ wohl noch amal fortgehen können – was?“
„Ich bitte dich, Hermann.“
Der Junge setzte sich niedergeschlagen und verschüchtert an den Tisch.
Sein Vater trat vor ihn, legte die Hand auf seine Schulter und schüttelte ihn ein bisschen. Dann sagte er mit rauher Stimme: „Na, haste schon die grosse Neuigkeit gehört, dass wir – dass wir – so gut wie bankerott sind?“
„Vater!“
„Hermann, ich bitte dich ...“
„Was is da zu schreien? In a paar Monaten da wissen’s alle alten Weiber – da pfeifen’s die Sperlinge ...“
Der Knabe richtete die Augen auf den Vater – entsetzt, fassungslos.
„Vater! Was sagst du? Das ist doch nicht wahr!“
Er sprang auf, klammerte die Hände um den einen Arm des Vaters, und der Mund verzog sich zu zuckendem Weinen. Raschdorf liess schwer das Haupt sinken.
„Es ist wahr – ich sag’s ja eben – es ist nichts mehr zu machen ...“
„Vater, müssen wir da fort von unserem Hofe? Müssen wir da fort von zu Hause?“
Der Mann war plötzlich nüchterner geworden.
„Ja“, sagte er, und seine Stimme ging schwer, „es geht hier mit uns zu Ende.“
Da liess ihn der Knabe los und brach in bitterliches Weinen aus. Die kranke Frau im Lehnstuhl sah ihn mit unbewegtem Gesichte an. Langsam aus der tiefsten Quelle des Herzens stiegen zwei Tränen in ihre grossen Augen. Die galten ihrem Kinde, das einen Schicksalsspruch vernahm, der es aus seiner Heimat verbannte, und das es nun nicht glauben wollte und mit unschuldigen Tränen und Bitten sich dagegen vergebens wehrte. –
Draussen war Nacht. Ringsum am Himmel hing ein Kranz aus lichteren Wolken. Aber über dem Buchenhofe drohte ein schwarzes Gewölk – finster – zerrissen. Regentropfen rieselten aus der Unheilswolke und trafen den Buchenhof, als ob ein finsterer Geist mit seinem Weihwedel dort oben stände und einen schrecklichen Segen spräche: das Weihewort des Verderbens.
Eine dunkle Gestalt jagte flatternd über den Hof. Ein Keuchen ging von ihrem Munde. Sie fiel. Sie sprang auf. Die Haustür riss sie auf, die Stubentür: „Jeses, es brennt in der Scheune!“
„Es brennt – es brennt!“
Ein schriller Laut aus dem Munde der Frau, die sich erhob und leblos zurücksank.
„Es brennt?! Es brennt?!“ Ein lallendes Kinderwimmern.
„Es brennt!“ Ein lautes, gellendes Männerlachen! –
Im Garten unter einem Apfelbaume, abseits von der Menge stand Mathias Berger, der Lumpenmann, und hielt mit seinen Armen Heinrich Raschdorf umschlungen. Ringsum standen Tische, Schränke, Stühle, lagen Betten, Kleider, Wirtschaftsgeräte verstreut im Garten.
Der Markt der Unglücklichen!
Die Fackeln des Unheils beleuchteten ihn. Das friedliche Laub der Bäume zitterte vor der Höllenglut, färbte sich rot und sank zur Erde. Und die kahlen Äste starrten dem Feuer entgegen, wie zitternde Tiere vor ringelnden Schlangen beben.
„Heinrich! Du musst ins Haus! Sieh mal, das Wohnhaus brennt nich ab – das is nu vorbei! Du musst ins Warme, Heinrich!“
„Ich will nicht, Mathias – ich – ich muss Wasser tragen!“
„Du kannst nicht mehr! Du bist ja durchnässt, du zitterst ja am ganzen Leibe.“
„Es ist unser Hof – ich – ich – oh – oh – Mathias ...“
Der Knabe war ohnmächtig.
Berger rief über den Garten:
„Ehrenfried, he – Ehrenfried!“
Ein Bauer kam heran.
„Ehrenfried, pass a bissel auf hier, dass niemand was stiehlt! Ich muss den Jungen ins Warme bringen; er holt sich sonst den Tod.“
Der Bauer war zu dem Dienst gern bereit.
„Schaff ihn doch zum Schräger ’rüber ins Wirtshaus“, riet er.
Berger schüttelte den Kopf und trug den ohnmächtigen Knaben ins Wohnhaus. Die Leute machten ihm scheu Platz.
Ein donnerndes Krachen dröhnte durch den Hof. Eine hohe Mauer war eingestürzt. Funken sprühten um das ohnmächtige Kind und seinen Retter.
Drinnen in der Wohnstube war der grosse Ofen noch warm, und Hund und Katze lagen friedlich unter der Ofenbank. Sonst war alles ausgeräumt. Nur die Petroleumlampe brannte noch. Aber ihr trautes Licht wurde schrecklich überstrahlt von der roten Lohe, die von draussen hereinleuchtete. Berger legte den Knaben auf den Fussboden und ging nach dem Garten zurück. Dort raffte er eine Menge Betten auf und trug sie nach der Stube.
Fürsorglich bettete er das kranke Kind, nachdem er es der triefenden Kleider entledigt. Dann kniete er neben dem Lager nieder und drückte einen Kuss auf die kalte Stirn des Knaben.
Da ging die Tür auf. Eine Frau trat langsam in die Stube. Ihre Stirn war marmorweiss, aber auf den Wangen brannte das Fieber, und das Feuer von draussen beleuchtete sie.
„Berger! Was ist denn? O Gott, was ist?“
Der Lumpenmann erhob sich und erschrak.
„Frau Raschdorf, Sie! – Sie sollen doch im Gasthause bleiben! Es ist nicht gut für Sie ...“
„Was ist mit Heinrich? Berger, was ist mit Heinrich?“
„Er ist ohnmächtig, gerade erst ohnmächtig geworden. Er hat sich so sehr angestrengt, und dann die Aufregung ...“
„Heinrich, mein lieber Heinrich!“ Und die Frau kniete aufweinend neben dem Lager nieder.
Berger schlich hinaus. Aus dem grossen Durcheinander im Garten suchte er den Lehnstuhl und eine Decke heraus und trug beides nach der Stube.
„Ich bringe Ihnen Ihren Lehnstuhl, Frau Raschdorf.“
Sie erhob sich. „Mathias, er kommt nicht zu sich. Was wird werden? Was wird mit ihm werden?“
Der Lumpenmann beugte sich über das Kind.
„Er wird schon wärmer. Ich denke, er wird bald aufwachen, gut zugedeckt ist er ja, da wird er schwitzen, und es wird ihm weiter nichts passieren.“
Zitternd stand ihm die Frau gegenüber. Ihre Augen leuchteten heiss auf, als sie ihn ansah; ein Zittern flog über ihren Körper, und mit erregter Stimme sagte sie: „Mathias – du – du hast das einzige gerettet – was ich noch habe.“
Sie streckte die Hände aus und schlug sie über seine Schultern, und ihr Gesicht sank matt an seine Brust in halber Ohnmacht.
Mathias Berger stand wie einer, der plötzlich stirbt und dem nur eine weisse, letzte Lebenswoge noch schmerzhaft und warm durchs Herz schlägt.
Doch er raffte sich zusammen. „Setzen Sie sich, Frau – Frau Raschdorf und wachen Sie bei ihm!“
Langsam ging er aus der Stube. –
Und immer noch stand die Unheilswolke über dem Buchenhofe. Die Feuerflammen schlugen hinauf zu ihr und malten grellrote Lichter auf ihren schwarzen Untergrund. Wie Blutstropfen fiel der leise Regen. Feuer von vollen Garben und duftendem Heu! In wahnsinniger, trunkener, taumelnder Freude erhoben sich die Feuerflammen. Draussen lagen die stillen, abgeernteten Felder, und nun war es, als ob jeder Halm in der Scheuer, jede vertrocknete Blume im Heu sterbend noch einmal das stille Plätzchen im Feldgrund grüssen wollte, da es gegrünt und geblüht und mit Faltern und zarten Winden gekost hatte. Jetzt zuckten über die beraubten Fluren stolze, jubelnde Flammensignale:
„Triumph! Wir sterben einen roten, herrlichen Tod! Erspart bleiben uns Tenne und Mühle. Die Natur ist gross, und der Mensch ist nichts!“
Die Menschen, die mit der Natur gerungen hatten im langen, mühsamen Kampfe, die ihr die Beute abjagten mit Schlauheit und Fleiss: sie standen bleich als die Besiegten, die Geschlagenen, und die Beute war ihnen entrissen, und ihr Bollwerk war zerstört.
Frau Mutter Erde sah schweigend zu, aber die Witwenschleier, die noch am Tage heiss und grau um ihre feuchte Stirn hingen, färbten sich rot. Die Halme und Blumen sind ihre Lieblingskinder, und der Mensch ist nur der Stiefsohn. –– –
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