Das Dorchester ist die Art von Hotel, in dem ihr Vater tätig war und in denen ihre Eltern abstiegen. Sie kommt jetzt als Trainee, im Status einer lernenden Angestellten also, mit einem Salär von £ 2,5 pro Woche. Das «Tochter aus gutem Hause»-Image bringt sie so schnell nicht weg; der Londoner Taxifahrer fährt die junge Frau jedenfalls vor den Haupteingang des Hotels – nicht zuletzt, weil er sich Hotelangestellte, die mit Überseekoffer anreisen, wohl nicht vorstellen konnte. Daraufhin geht sie ins Hotel und gibt immerhin zu verstehen, dass sie fürchtet, nicht den richtigen Eingang benutzt zu haben. Nein, natürlich nicht. Aber mit dem Schrankkoffer ist sie auch am Personaleingang fehl am Platz, also schleust man sie durch den Eingang zum Ballsaal. Was für ein Eintritt!
Dies ist allerdings das letzte Mal, dass ihre Herkunft bei ihrer Tätigkeit eine Rolle spielen wird. Von jetzt an widmet sie sich ganz der Aufgabe, die vor ihr liegt: das Hotelwesen à fond kennenzulernen. Sie möchte etwas leisten, möchte der Familie beweisen, dass sie etwas kann, und ganz nebenbei die Erinnerungen an den Mann, der ihren ersten grossen Liebeskummer verursacht hat, loswerden. London wird die echte Abnabelung sein, und sie ist innerlich bereit dazu.
Seltsam, nicht wahr? Die Ach-so-Heimweh-Geplagte weiss gar nicht mehr, was Heimweh ist – das Gefühl, das sie so oft überwältigt und die Tränenschleusen geöffnet hat, ist wie weggeblasen. Das Töchterchen, das sich gerne hat verwöhnen lassen, möchte auf einmal nicht mehr dem Elternhaus auf der Tasche liegen, sondern selbstständig ihr Geld verwalten – und «ihr Geld» bedeutet hier genau das, was ein Trainee verdient. Das heisst unter anderem:
Ich habe natürlich in der Stadt nur normale Verkehrsmittel benutzt und nie mehr als die Teilstrecke für den ersten Tarif gelöst, den Rest bin ich dann gelaufen. Als ich nach Hause kam, musste ich sämtliche Schuhe zur Reparatur bringen; überall waren Löcher in den Sohlen. Dafür habe ich London zu Fuss kennengelernt, viel mehr gesehen, als wenn ich Taxi gefahren wäre, und mein Monatssalär habe ich so gut verwaltet, dass ich sogar noch vieles von dem grossartigen kulturellen Angebot – Theater, Musik, Museen – geniessen konnte.
Sie ist jetzt eine von den 350 Mitarbeitenden, die sich um 200 Gäste kümmern. Sie ist selbstbestimmt und kann ihre freie Zeit an Orten ihrer Wahl und auf die Art verbringen, wie es ihr zusagt. An dem einzigen freien Tag pro Woche fährt sie dann mit der «Green Line», einem ausgedehnten Verkehrsnetz, in andere Städte; dabei besichtigt sie berühmte Burgen, Gärten, Bibliotheken – und natürlich auch Kathedralen. Als sie einmal in Windsor mitten in eine Messe gerät, ist sie etwas erstaunt, dass die Menschen, die eben noch auf Augenhöhe neben ihr sassen, plötzlich ganz klein geworden sind: Sie beten kniend. Rosmarie Michel ist es peinlich, als Einzige in Normalgrösse dazusitzen; sie geht in die Hocke und harrt aus, bis das Gebet vorbei ist; erst dann entdeckt sie unter dem Sitz vor ihr das Kissen, das für diesen Zweck vorgesehen ist. Es ist ein ständiger Lernprozess – im Kleinen wie im Grossen –, aber auch eine Zeit voller neuer, aufregender Erlebnisse.
Eines Abends läuft sie zurück ins Hotel, von Westminster Abbey in die Park Lane. Hinter ihr Schritte, als sie am St. James’ Park entlangläuft – Schritte, die beharrlich auch hinter ihr bleiben. Sie hat zwar keine Angst, aber sie schielt ein wenig nach links, was der junge Mann, der zu den Schritten gehört, als Aufforderung nimmt, sie anzusprechen. Er will sie nicht überholen, sondern nur mit ihr sprechen. Er stellt sich vor, ganz korrekt; kommt aus den Vereinigten Staaten, um seine verheiratete Schwester in Cornwall zu besuchen, und macht einen fünftägigen Stopp in London. Ob sie London gut kennt und ihm helfen könne? – Nein, eigentlich nicht. Aber man kommt ins Gespräch. Auch sie erwähnt ihren Namen und ihr Herkunftsland. Ob er sie dorthin begleiten darf, wo sie wohnt? – Nein, eigentlich auch nicht. «Park Lane» als Strassennamen lässt sie sich noch entlocken, mehr aber nicht. Danke und adieu!
Das Adieu entpuppt sich als ein «Auf Wiedersehen». Am nächsten Tag nämlich wird für den Trainee aus der Schweiz ein wundervoller Rosenstrauss im Dorchester abgegeben, mit Dank für die Konversation des Vorabends und einer Einladung zu einem Opernabend. Er muss mir gefolgt sein, ohne dass ich es gemerkt habe, denn ich habe das Hotel nie erwähnt, meint sie, immer noch schmunzelnd. Natürlich fühlt sie sich geschmeichelt und sagt zu:
Es war ein Gastspiel der Münchner Staatsoper, und man gab «Siegfried» in deutscher Sprache; ich habe in den Pausen für die drei Reihen vor und hinter mir übersetzen müssen. Die restliche Zeit haben wir dann Ausflüge gemacht, Kultur genossen oder sind essen gegangen. Ich habe jede freie Minute dieser fünf Tage mit ihm verbracht – es war einfach eine schöne Erinnerung. Nicht mehr und nicht weniger.
Und das war es dann wohl auch. Bedauern, dass es nur so kurz war? Nein. Ein Flirt? Nicht einmal das. Was soll sie auch mit einem Amerikaner zum jetzigen Zeitpunkt? Zu jener Zeit war ich wohl ins Alter der Paarung geglitten. Ich habe aber weniger interessierte oder interessante Partner gefunden, sondern viele potenzielle Schwiegermütter, die in mir die ideale Schwiegertochter sahen. Heiraten ist nicht das Thema der Stunde (schon gar nicht käme dafür der Nachtportier in Frage, dem es die Schweizerin angetan hat); der berufliche Lernprozess steht im Vordergrund. Und der ist umfassend und wird für sie eines der wichtigsten Teile im Leadership-Puzzle sein ...
Als Alleinstehende ist es ihr egal, wann sie ihren freien Tag nimmt; sie macht also oft und gerne Sonntagsdienst und ist dann als Gouvernante für acht Stockwerke alleine verantwortlich. Da gibt es viele Geschichten von ganz berühmten Gästen, die sich zum Teil ganz unmöglich aufgeführt haben; die Gäste des Dorchester sind gewöhnt zu bekommen, was sie wollen, und einige männliche Gäste sind überrascht, beleidigt oder wütend, wenn ihre eindeutig-zweideutigen Angebote bestimmt, aber höflich abgelehnt werden. Dann aber sind da auch Menschen, die sich trotz Berühmtheit und Status als ganz umgänglich herausstellen, vielleicht einsam sind und sich gerne ein wenig mit der sehr korrekten jungen Schweizerin unterhalten.
Auf der anderen Seite des Spektrums sind die Mitarbeitenden, die ihr unmittelbar unterstellt sind: die sogenannten bath women. Sie reinigen die Badezimmer und verrichten andere gröbere Arbeiten. Bei ihnen lernt sie unter anderem, sich mit ganz verschiedenen Typen von Englisch zu arrangieren, denn diese Frauen sprechen entweder unverfälschtes Cockney oder kommen aus Irland mit einem Englisch, das für Schweizer Ohren fast nicht verständlich ist. Aber die erdgebundenen Frauen glänzen mit Mutterwitz und mögen die junge Schweizerin, die selbst über einen guten Sinn für Humor verfügt, und man arrangiert sich irgendwie in Bezug auf die Sprache.
In diesem Hotel zu arbeiten hat mir so viel gebracht – ich kann nur dankbar sein für diese Erfahrung! Hotelverantwortliche sind 150 prozentige Dienstleister; 24 Stunden pro Tag dreht sich alles um den Gast. Das kann in der Atmosphäre eines Bienenhauses stattfinden oder in der eines Hexenkessels. Die Nacht wird zum Tag, die Planung kann zum Chaos werden, wenn jemand Wichtiges unangemeldet erscheint oder ein anderer Gast trotz Reservierung einer Suite und einer nicht enden wollenden Liste von Sonderwünschen nicht erscheint.
Die theoretische Ausbildung in Lausanne war zwar eine gute Grundlage, hätte aber ohne die Praxis längst nicht genügt, um in diesem Beruf gut zu sein. Rosmarie Michel weiss zwar immer noch nicht, was genau sie werden will, aber sie kombiniert die Theorie mit viel praktischer Arbeit, hört zu, sieht hin, lernt ständig dazu. Gewisse Talente bringt sie schon mit, andere Ansätze entwickelt sie – es ist ein echtes learning by doing:
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