Ihren Kräften entsprechend, wird die Kleine früh zum Mithelfen angehalten. Da gibt es Aufgaben hinter und vor den Kulissen; diejenigen im sogenannten «Office» beinhalten das, was kleine Mädchen meistens zuerst auch im Haushalt zu tun lernen:
Damals gab es noch keine Abwaschmaschinen, also war Tellertrocknen angesagt. Das war, im Alter von neun Jahren, mein Debüt im Arbeitsleben. Allerdings habe ich mich schon damals gerne mit Maschinen befasst: Die Kaffeemaschine zum Beispiel hatte so ein Zäpfli, das man ziehen musste, um Kaffee herauszulassen. Ich fand das faszinierend; schon damals hat sich offenbar nicht nur eine gewisse technische Begabung manifestiert, sondern auch mein Pragmatismus: Weil ich schon früh gemerkt habe, dass Stehenlassen auch Teller trocknet, habe ich mich mit Hingabe der Kaffeemaschine gewidmet, den Kaffee herausgelassen und in die Durchreiche gestellt. Ich wurde also die Hilfskaffeeköchin.
Schon früh darf sie auch auf die eigentliche Bühne des Geschehens, in den Laden, in dem die Schokolade so herrlich duftet:
Am Sonntag nach dem Kirchgang kamen fast alle Kunden, um das Sonntagsdessert zu holen, viele Väter und die dazugehörigen Kinder. Ich durfte dann an der Türe stehen und sagen: «Auf Wiedersehen, danke vielmal!»
Ich habe das sehr gerne gemacht, denn ich hatte keine Angst vor fremden Leuten. Bei diesen Kunden aller Altersklassen und verschiedener Schichten habe ich gesehen, dass die alle so normal sind wie meine Eltern. Und natürlich waren sie auch sehr nett zu der Kleinen, die da an der Tür stand und, sich ihrer wichtigen Aufgabe voll bewusst, Auf Wiedersehen sagte.
Nun ist es aber nicht so, dass es sich hier um echte Kinderarbeit handelt, im Gegenteil: Rosmarie Michel wächst behütet auf. Kinderschwester Anna ist ein Teil ihres Alltags – und Mitglied ihres Fan-Clubs, ist man versucht zu sagen. Die Kleine ist der Liebling der Frau, die als ausgebildete Kinderschwester zuerst einmal für den Sohn Hansjürg in die Familie geholt wird. Der findet Kinderschwestern allerdings völlig überflüssig, und dementsprechend bekommt er sofort Krach mit ihnen. Nachdem schon einige das Haus betreten und es ziemlich schnell wieder verlassen hatten, reisst der Mutter der Geduldsfaden. Diese hier, die der Dreijährige auch nicht mag, wird bleiben, dekretiert sie, zumal ja jetzt auch noch ein Säugling zu betreuen ist.
Die Kinderschwester bleibt also – und zwar noch zwanzig Jahre! Nicht dass Rosmarie Michel diese Betreuung so lange gebraucht hätte, aber die treue Angestellte wird natürlich ein Teil des sozialen Gefüges: Man konnte doch jemanden, der so lange so treu der Familie gedient hatte, nicht entlassen! Schon früh lernt das behütete kleine Mädchen, dass viele Menschen auch in weniger komfortablen Umständen leben, und sie ist entschlossen, das zu ändern, wenn auch in diesem Fall vielleicht weniger pragmatisch:
Einmal hat die Kinderschwester mich, als kleines Mädchen, mit zu sich nach Hause genommen. Ihr Vater arbeitete in einer grossen Tuchfabrik, und die Mutter betrieb eine kleine Landwirtschaft. Ich hatte es gut: Wo immer ich hingekommen bin, fand man mich süss und nett und war lieb zu mir. Also, ich bin dorthin gegangen und musste irgendwann mal auf die Toilette: Sie hatten natürlich ausserhalb des Hauses ein Plumpsklo. Dann bin ich nach Hause gekommen, und meine Mutter hat gefragt, obʼs schön gewesen wäre, und da hab ich gesagt: Ja, es wäre sehr schön gewesen; das seien ganz liebe Leute, aber meine Eltern müssten ihnen unverzüglich ein WC fürs Haus schenken, damit diese netten Menschen nicht mehr im Winter frieren müssten. Natürlich haben meine Eltern diese Sache etwas anders gesehen und mir klargemacht, dass das nicht ihre Aufgabe sei.
Sie war, wie sie das nennt, «der Chouchou der Kinderschwester», was sie mit Kinderlist auch weidlich ausgenutzt hat. Schon damals manifestiert das kleine Mädchen frühe Führungsambitionen: Sobald das Kind sprechen kann, macht die Kinderschwester das, was das kleine Mädchen will – auch wenn sie dies wahrscheinlich selten realisiert. Die beiden verbringen viel Zeit miteinander; hie und da kommt Anna sogar mit in die Ferien. Und oft werden sie zu Komplizen, sei es gegen Bruder und Haushälterin, die sich zu einer neuen Allianz verbündet haben, oder gegen Aussenstehende, die der Kleinen nicht passen. Rosmarie Michel hat nie einen Kindergarten von innen gesehen (sie sinniert heute darüber, ob das vielleicht ein Manko gewesen sein könnte ...), aber da ihre Mutter sich verpflichtet fühlte, gestrandeten Existenzen beizustehen, wird das Kind zum Beispiel in eine Rhythmik-Schule geschickt.
Eine Kundin hat im Laden auf diese Frau hingewiesen, die dringend ein Einkommen brauchte, und schon wurde Klein-Rosmarie in die Bewegungsschule geschickt. Aber ich habe zur Bedingung gemacht: nur mit der Kinderschwester! Ich hab das allein nicht ausgehalten; mir hat es vor der Frau wirklich gegraust.
Viele Menschen haben lernen müssen, dass man sich Rosmarie Michel gegenüber nicht ungerecht, unredlich oder unethisch verhalten darf. Ein solches Verhalten zieht Folgen nach sich. Zu denjenigen, die das zu spüren bekommen, gehört auch Frau Berg, ein weiterer «Fall». Sie unterrichtet Kinder aus dem Quartier in Bastel- und Handarbeiten, und obwohl die Kleine kein übermässiges Interesse an dieser Art von Unterricht an den Tag legt, muss sie zu Frau Berg, denn das Kursgeld der fünf oder sechs Kinder, die dort pro Woche ein paar Stunden verbringen, ist ein Beitrag an das nicht gerade üppige Einkommen dieser Dame. Ein Zwischenfall beendet diesen Unterricht dann sehr abrupt, und hier zeigt sich deutlich, wie konsequent Rosmarie Michel bereits als kleines Mädchen auf Ungerechtigkeit reagiert:
Ich hab das noch ganz gern gemacht, besonders die Bastelarbeiten mit Lederresten. Eines Tages hat Frau B. etwas gesucht – ich glaube, es war irgendein Stück Leder –, und als sie es nicht fand, hat sie behauptet, jemand hätte es genommen. Wir daraufhin: Nein. Danach hat sie mich angeguckt und gesagt, ich hätte das genommen. Da habe ich wortlos mein Säckli gepackt und bin nach Hause gegangen – und danach nie mehr zu Frau Berg.
Natürlich wollte meine Mutter wissen, warum ich schon so früh zu Hause war. Ich sagte ihr, das sei nicht so wichtig. Doch Frau Berg war nicht nur ungerecht, sondern wohl auch nicht besonders intelligent. Sie kam eine Woche später in den Laden, um sich zu beklagen, dass ich nicht zur Bastelstunde gekommen sei. Meine Mutter meinte, ich müsse ihr nun doch sagen, was da passiert sei. Also habe ich es ihr gesagt. Ich hatte eine Mutter, die so etwas begriff und nachvollziehen konnte, und so sagte sie zu Frau Berg, als die wiederum im Laden auftauchte: «Es hat keinen Zweck, dass Sie sich bei mir beklagen. Sie haben meine Tochter angeschuldigt für etwas, was sie nicht getan hat. Das ist sie nicht gewöhnt. Machen Sie sich keine Hoffnungen: Sie wird nie mehr zu Ihnen gehen.» Damit war für Frau Berg eine Einnahmequelle weg, aber ich nehme an, man hatte ein Halbjahr im Voraus gezahlt. Auf der Strasse, wenn ich Frau Berg kommen sah, habe ich mich hinter der Kinderschwester versteckt – damals begegnete man sich ja noch häufiger –; ich konnte sie nicht ausstehen.
Wenn bisher in erster Linie von Trudy Michel, geborene Schurter, die Rede war, dann ist das keine Abwertung des Vaters Fritz Michel, aber auch kein Zufall. Der Umgang mit der tüchtigen, stilsicheren Mutter – einer Frau mit Ansprüchen und allure einerseits und sozialem Gewissen andererseits –, und die enge Bindung an sie, geprägt von Liebe und Respekt, ist eine der starken Wurzeln, auf die Rosmarie Michel ihre Zukunft bauen darf. Die Liebe zum Vater ist jedoch ebenfalls da, aber der Vater, Spross einer etablierten Hoteliersfamilie, ist es nicht, oder zumindest nicht in dem Ausmass wie die Mutter. Mit ihm verbinden sie andere Dinge – Aktivitäten, die mit einem Hauch von Abenteuer daherkommen, wie zum Beispiel Filme machen oder Auto fahren.
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