Man hat mich delegiert, um mit dieser Nonne zu verhandeln. Ich habe ihr erklärt, dass wir den Markusplatz unbedingt im Abendlicht studieren müssten, und gefragt, ob sie da eine Möglichkeit sähe. Die einzige Art, das zu bewerkstelligen, meinte sie, sei, dass sie dann aufbleiben müsse, bis wir nach Hause kämen. Daraufhin habe ich alle Leckereien, die die Mädchen von zu Hause mitgebracht hatten, zusammengesammelt und ihr als «Müschterli» aus der Schweiz gegeben. Sie hat dann ohne Schwierigkeiten bis Mitternacht ausgeharrt ...
Die Bereicherung solcher Erfahrungen wird ihr späteres Berufsleben prägen: In den meisten Krisen wird sie einen Weg finden – gemeinsam mit den Opponenten, wenn möglich –, und sie wird ziemlich schnell wissen, wann sie die Süssigkeiten hervorholen und wann ihre Stimme diesen sehr bestimmten Ton annehmen muss, um zum Ziel zu kommen. Nie wird sie das Mandat suchen müssen, denn immer hat sie ein Umfeld, das in ihr die Leader-Figur erkennt und ihr die Führung anträgt.
Die Schule hat für so vieles bei mir den Grundstein gelegt: Ich habe alle Grundlagen erhalten, um aufbauen, entwickeln und – ganz wichtig – geniessen zu können. Die Schönheiten dieser Welt wurden uns auf diese Weise vermittelt, wir konnten sie aufnehmen, und das wurde zu einer reichen Basis für die Zukunft.
Nachdem die schöne Zeit vorbei ist, stellt sich die Frage: «Wie geht es weiter?» Die Familie findet, die Tochter solle noch, nach bewährtem Muster, ihre Sprachkenntnisse im französischsprachigen Teil der Schweiz vertiefen. Sie soll also, so findet die Mutter, in ein welsches Pensionat geschickt werden. Da aber legt die Tochter ein Veto ein: Sie ist jetzt neunzehn Jahre alt und möchte definitiv nicht in ein Pensionat, sondern auf die renommierte Hotelfachschule in Lausanne. Fünfzehn Generationen von Hoteliers auf der väterlichen Seite lassen grüssen ... Papa ist begeistert und nimmt die Anmeldung vor, die mit dem Namen «Michel» kein Problem darstellt – schliesslich war jemand in seiner Familie Mitbegründer dieser Institution, deren Ziel es ist, Interessentinnen und Interessenten aus aller Welt aufzunehmen und sie als bestausgebildete Hoteliers dann wieder in alle Welt hinauszuschicken.
Die Heimwehkranke nimmt Abschied von der Kinderschwester, die mehr als zwanzig Jahre Teil der Familie war («Wir haben beide schrecklich geheult!»), steigt in Papas Auto und fährt mit der Familie nicht nur nach Lausanne, sondern in die Eigenständigkeit. Es ist ein Ausbrechen aus den Familienbanden, die hie und da auch zur Fessel werden konnten.
Ich habe in einem sehr bescheidenen Zimmer gewohnt, bei der Witwe eines «Chef du Gare». Dort gab es nur kaltes Wasser zum Duschen, ausser am Samstag, wenn man ein Bad nehmen durfte. Die Dame war sehr gesprächig und versuchte immer, mich in eine Unterhaltung zu verwickeln. Dann rief sie vom Flur aus: «Rosmarie, vous êtes là?», und ich antwortete jeweils: «Oui, je travaille», obwohl ich einen Roman las oder mich sonst mit etwas vergnügte. Schwierig wurde es, wenn ich das Haus verliess, denn sie wachte über die Ausgangstür. Zum Glück war das Zimmer im Parterre, und ich bin oft durchs Fenster ein- und ausgestiegen. Aber trotzdem: Wir haben einander gemocht.
Die junge Fachschulstudentin ist nicht gewillt, sich die neu erworbene Freiheit einschränken zu lassen. Die Stadt am Lac Léman hat so viel zu bieten; die Mitstudenten sind Söhne aus internationalen Hoteliersfamilien, die sich um die Studentinnen, die nur rund zehn Prozent der Klassen ausmachen, reissen. Die junge Zürcherin tanzt für ihr Leben gerne, und Lausanne hat auch auf diesem Gebiet ein grosses Angebot. Plötzlich ist sie nicht nur der Kontrolle der Familie, so liebevoll sie auch ausgeübt worden war, entronnen, sondern auch befreit von den Familienpflichten: keine Sorgen mit den Mitarbeitenden und keine Nachmittage im Geschäft, wie sie sie während ihrer Schulzeit öfter verbracht hat, sondern ausgiebiges Geniessen der Abende in charmanter Gesellschaft und eigenständige Gestaltung der Wochenenden. Sie ist eine begehrte Tänzerin, jung und voller Energie:
Ich stieg also durchs Fenster nach draussen, bin nachts nach Hause gekommen und dann schon bald wieder aufgestanden, um zum Unterricht zu gehen. Ich war gut in der Schule, egal wie wenig ich geschlafen hatte; der Unterricht fand auf Englisch oder Französisch statt. In beiden Sprachen konnte ich mich gut ausdrücken. Ich genoss die Freiheit, die selbstständige Wochengestaltung. Meine Eltern hatten zwar Verständnis dafür, dass ich diesen Heimweh-Tick hatte, aber dieses Verständnis ging nicht so weit, dass ich übers Wochenende hätte nach Hause dürfen; dies war nur in den Semesterferien erlaubt.
Natürlich hat die junge Frau aus gutem Hause ihren Eltern keine Schande gemacht ...
Bei Schulabschluss hat sie den Unterbau in einem Beruf erlernt, dessen Praxis sie bereits in der Familie erlebt hat. Sie weiss jetzt, wie man ein Hotel führt, wie die Kalkulation aussieht, wie man die Küche managt usw., aber nun muss sie dieses theoretische Wissen selbst in der Praxis anwenden, um wirklich zu wissen, worum es hier geht. Gerne möchte sie jetzt zuerst einmal einen Stage in Zürich machen, und sie beginnt ihn im Hotel Glockenhof. Die Tochter aus guter Familie ist den meisten anderen ein Dorn im Auge, ganz besonders der Gouvernante, obwohl sie genauso arbeitet wie alle anderen. Die sehr tüchtige, aber auch sehr strenge Gouvernante ist ihre Vorgesetzte, und sehr bald schon ergibt sich für die junge Stagiaire eine Gelegenheit, ihre Auffassung von Recht und Unrecht klarzumachen:
Eines Tages hat sie mir befohlen, einen schlechten Sassella mit einem guten Veltliner zu mischen, damit man den Sassella besser verkaufen konnte. Ich sagte, dass ich dies nicht tun würde – nicht zuletzt, weil der Mix von einem schlechten und einem guten Wein wiederum einen schlechten ergeben würde. Sie hat mir das nicht geglaubt und ein Riesentheater gemacht. Ich habe sie gebeten, beim Direktor zu melden, dass ich so etwas nicht tun würde, damit diese Sache nicht mir angelastet würde.
Sie hat mir einmal gesagt, ich sei die Dümmste, die ihr je begegnet sei; abgesehen davon, dass diese Bemerkung eher eine Evaluation ihrer eigenen Intelligenz war, habe ich dann erfahren, dass ich die Einzige war, die die ganzen sechs Monate Stage ausgehalten hat; meine Vorgängerinnen hatten immer schon viel früher das Handtuch geworfen.
Das wäre allerdings in meinem Fall wohl nicht gut gegangen; bei mir zu Hause hat man gesagt: «Du spielst dann bitte nicht ‹verwöhnte Tochter›, sondern machst alles, was angeordnet wird. Wir möchten keine Klagen hören.» So habe ich von morgens 6.00 bis abends 10.00 Uhr gearbeitet, dann nach Hause unter die Dusche und danach häufig noch ausgegangen – und dies für einen Monatslohn von Fr. 180.–.
Auch diese Episode in ihrem Leben geht zu Ende, und – Heimweh hin oder her – der Wunsch, eigene Erfahrungen in einem anderen Land zu machen, wird immer stärker. Nach zwei Jahren, in denen sie im mütterlichen Geschäft gearbeitet und ihren ersten echten Liebeskummer durchlebt hat, ist es so weit: Die Wahl fällt auf London und auf eines der weltbesten Hotels, das Dorchester. Dort ist ein Freund des Vaters Direktor, dort wird sie als Trainee engagiert, und dort vollendet sie, ohne es zu wissen, den letzten Abschnitt der Vorbereitungen auf die Aufgaben, die auf sie warten.
Wenn die 25-Jährige nach Zürich zurückkommt, wird sie gerüstet sein für das Leben, denn es gibt keine bessere Lebensschulung als ein Hotel.
Übung im Weitsprung
Make no small plans. They have no power to stir the blood.
Dr. Lena Madesin Phillips 2
Die Zeit war reif für den grossen Wechsel, und Rosmarie Michel war es auch; als Nächstes war eine Übung im Weitsprung angesagt: Im Frühjahr 1956 verlässt Rosmarie Michel Zürich, um einen einjährigen Stage in London anzutreten. Das war mehr als eine Schule in einer anderen Stadt, aber im eigenen Land; da waren die Fremde, eine andere Sprache, andere Lebensgewohnheiten, ein unbekanntes Umfeld. Hier war es ziemlich egal, ob sie die behütete Tochter aus gutem Hause war – das «gute Haus» war hier unbekannt, ihre sehr guten Schulabschlüsse interessierten niemanden, und 1956 gab es keine Billigflüge, die einen in ein paar Stunden wieder nach Zürich brachten. Sie wollte ein Zeichen setzen, aber es war mehr als das: Es war die organische Entwicklung im Leben einer jungen Frau, die wusste, dass die Zeit gekommen war, um diesen Schritt der Abnabelung zu tun.
Читать дальше