Die Ka‘ba (Haus Gottes), der würfelförmige Tempel mit dem heiligen schwarzen Stein im Zentrum des Ehrwürdigen Heiligtums in Mekka. Pilger umschreiten die Ka‘ba, und Muslime auf der ganzen Welt beten in ihre Richtung. Die Kiswa oder Abdeckung aus schwarzer Seide wird jedes Jahr erneuert. (© Popperfoto)
Schlussbemerkung: Islam und Islamismus
Der Bestimmungsflughafen für den Hajj, King ‘Abdul ‘Aziz International Airport, in der Nähe von Jeddah in Saudi-Arabien.
Die riesigen zeltartigen Hallen wurden aus Isoliermaterial hergestellt, das in der Raumfahrtforschung entwickelt worden ist, und bieten genug Platz, um pro Stunde 5000 Pilger abzufertigen. Der Hajj ist dadurch leichter zugänglich und erschwinglicher geworden.
(Foto: R. Gunay – Mit Genehmigung des Aga Khan Trust for Culture)
Das religiöse Neuerwachen im modernen Islam spiegelt den raschen sozialen und technologischen Wandel in der muslimischen Welt, besonders aber die zerstörerischen Auswirkungen einer rapide zunehmenden Urbanisierung wider. In dieser Hinsicht ähneln die Ursachen denen in Lateinamerika und Teilen von Schwarzafrika, wo gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine massive Zunahme der Aktivitäten protestantischer Kirchen zu beobachten ist. Allerdings ist die gewachsene Strenggläubigkeit im Islam, die sich an Indikatoren wie der Teilnahme an Gebet, am Fasten und am Hajj, der jährlichen Pilgerfahrt nach Mekka, ablesen lässt, unzertrennlich mit den politischen Bestrebungen der Muslime verbunden. Die meisten von ihnen leben in postkolonialen Staaten, an deren Spitze Regierungen stehen, die in ihren Augen weder über moralische noch geistliche Autorität verfügen. Das Aufkommen der Volksbildung und die zunehmende Verbreitung audiovisueller Kommunikationsmittel hat dazu geführt, dass traditionelle Quellen religiöser Autorität sowohl unter den ‘ulama wie aus der Führerschaft der Sufi-Bruderschaften an Bedeutung verloren haben. Die entstandenen Lücken wurden bis vor kurzem von ganz verschiedenen Bewegungen und Führern gefüllt, von denen die meisten eine religiöse Legitimierung für ihr Handeln beanspruchen. In der Geschichte der islamischen Länder gibt es zahlreiche Präzedenzfälle für religiöse Wiedererweckungsbewegungen, die eine Herausforderung für die Herrschenden darstellten und manchmal selbst die Macht übernahmen, bevor die koloniale und [44]postkoloniale Weltordnung den Großteil der Welt in ihren ökonomischen und kulturellen Wirkungskreis hineinzog.
Es wäre allerdings falsch, daraus den Schluss zu ziehen, die islamischen politischen Bewegungen unserer Zeit seien nichts als die jüngsten Beispiele für einen seit Jahrhunderten etablierten schematischen Zyklus. Die Wiedererweckungsbewegungen, die so oft die Schlagzeilen beherrschen, sind durchaus modern – nicht nur in ihren Methoden, zu denen hochentwickelte Organisationstechniken genauso zählen wie der Einsatz von Kanonen, Raketen oder Bomben. Sie sind auch insofern modern, als sie in einen »traditionellen« islamischen Diskurs viele importierte Ideen integriert haben, die ihren Ursprung [45]außerhalb der intellektuellen Überlieferung des Islam haben. Der Bedeutungsverlust tradierter Formen der Spiritualität, wie sie in den Sufi-Bruderschaften aufgehoben waren, ist einhergegangen mit einer »Ideologisierung« des Islam auf politischer Ebene, mit der Konstruktion einer politischen Ideologie, die sich einiger aus dem historischen Repertoire des Islam stammender, handverlesener Symbole bediente, andere dagegen ausschloss. Diese Ideologie wird manchmal als »islamischer Fundamentalismus« bezeichnet, wird jedoch mit dem Begriff Islamismus besser beschrieben: Das an das arabische Ausgangswort angehängte lateinische Suffix spiegelt den Sprachgebrauch der Islamisten wider, die sich selbst als islamiyan bezeichnen im Unterschied zu dem allgemeineren Begriff muslimun (›Muslime‹). Dieser Sprachgebrauch drückt die Beziehung zwischen der seit langem existierenden Realität (in diesem Fall eine Religion) und ihrer Umsetzung in eine politische Ideologie präziser aus, genau wie der Kommunismus die Wirklichkeit der Kommune, der Sozialismus das Soziale und der Faschismus die antiken Symbole der Amtsgewalt römischer Konsuln ideologisiert. Der Islamismus ist nicht identisch mit dem Islam. Auch wenn die Grenzlinie zwischen den beiden Begriffen häufig zu verwischen scheint, ist es wichtig, diese Unterscheidung zu treffen.
[46]2 Der Koran und der Prophet
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Muslime oft Mohammedaner, die Religion des Islam Mohammedanismus genannt. Dass dieser Sprachgebrauch mittlerweile aufgegeben worden ist, hängt zum Teil mit den politischen Veränderungen zusammen, die sich seit den Zeiten vollzogen haben, als die meisten Länder der islamischen Welt unter europäischer Kolonialherrschaft standen. Vor allem im südlichen Asien sahen die Europäer den Respekt, den Muslime ihrem Propheten erwiesen, als gleichbedeutend mit Gottesverehrung an. Die Muslime bezeichneten sich selbst für gewöhnlich nicht als Mohammedaner (außer um sich im Gespräch mit Europäern selbst zu beschreiben), weil die Verwendung eines solchen Begriffs die Vorstellung nahelegen würde, dass sie Muhammad ebenso verehrten, wie die Christen Christus anbeteten. Orthodoxe Muslime mussten eine derartige Implikation als im höchsten Maße anstößig empfinden. Muslime beten Gott an, nicht Muhammad. Der Gesandte war ein Prophet und nicht ein Gott oder eine in Menschengestalt auf die Erde herabgestiegene Gottheit. Anderslautende Andeutungen würden eine Bresche in die Trennmauer zwischen Gott und der Menschheit schlagen und die Grenze zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung verletzen. In theologischer Hinsicht ist die Verteidigung dieser Grenze der zentrale Glaubensartikel des Islam. »Es gibt keine Gottheit außer Gott. Muhammad ist der Gesandte Gottes.«
Das soll nicht bedeuten, dass Muhammad als in irgendeinem Sinne gewöhnlich angesehen würde oder dass ihm bei der Herausbildung des Islam eine weniger ausschlaggebende Rolle zukäme als Christus bei der Entstehung des Christentums. Eher ist das Gegenteil richtig. Weil der islamische Kanon so umfangreich ist, gibt es viel mehr Taten, Sprüche und Gedanken, die Muhammad zugeschrieben werden, als das für Jesus der Fall ist. Der Unterschied liegt nicht in seiner historischen Bedeutung oder [47]der Faszination begründet, die er auf das Denken seiner Anhänger ausübte, sondern vielmehr in dem anderen Status, der seinen Äußerungen zuerkannt wurde. Muslime aller Glaubensrichtungen trennen zwischen den Aussprüchen, die Muhammad in seiner Funktion als Prophet oder Verkünder der göttlichen Offenbarung zugeschrieben werden – diese Äußerungen sind im Koran ( Quran ; in seiner ursprünglichen Bedeutung ›der Diskurs‹ oder ›die Rezitation‹) gesammelt –, und jenen mit niedrigerem Status, die von seinen Zeitgenossen in einem Korpus nachgeordneter Schriften, den sogenannten Hadithen (›Überlieferungen‹), niedergelegt sind. Obwohl es eine gewisse Kontroverse um die beiden Textkategorien gibt, sind sich im Allgemeinen muslimische wie nichtmuslimische Kommentatoren einig, was den beschriebenen Unterschied im Status betrifft.
Für die überwältigende Mehrheit der Muslime ist der Koran die Rede Gottes, die so diktiert und vom Menschen nicht redigiert worden ist. Im Gefolge der katholisch anmutenden Mu‘tazili -Kontroverse (s. S. 94 f.) wurde der Koran als »nicht geschaffen« aufgefasst und war damit von der gleichen ewigen Dauer und Zeitlosigkeit wie Gott. Wie Wilfred Cantwell-Smith bemerkt, nimmt er für den gläubigen Muslim denselben Platz ein wie Christus für die Christen. Ein Muslim oder eine Muslimin soll den Text nur zur Hand nehmen, wenn er oder sie sich im Zustand ritueller Reinheit befindet. Die exakte Aussprache ist genauso wichtig wie die Bedeutungen; anders als bei den meisten arabischen Texten liefert die koranische Schrift das Zeichen für die Vokalkürze mit, um ein Höchstmaß an Genauigkeit sicherzustellen. Lesungen wird die Wendung vorausgeschickt: »Ich nehme Zuflucht bei Gott vor Satan, dem Verfluchten«, und sie schließen mit dem Satz: »Gott der Allmächtige hat wahr [48]gesprochen!« Die Eröffnungs- und Schlussformel errichten »mit Worten eine Art von ritueller Einfriedung um den rezitierten Text und schützen ihn so vor bösen Eingebungen oder Falschheit«.13 Bestimmten Versen werden heilende Kräfte zugeschrieben: Beispielsweise soll die erste Sure (Kapitel), die auch als »Die Eröffnende« bekannt ist, gegen den Stich eines Skorpions helfen; die letzten beiden, die Suren 113 und 114, taugen angeblich zur Heilung diverser Krankheiten.
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